Sommerkind
meiner Liste der Verdächtigen ganz unten steht.”
“Ja, ich weiß”, beeilte sich Mrs. Wheeler zu sagen. “Und sicher hast du auch recht. Aber deine Mutter und ich haben damals viele Gespräche geführt. Sie hat sich eine Menge Gedanken darüber gemacht, warum sie ein Kind mit Downsyndrom hat, und als sie mit dir schwanger wurde, war sie sehr besorgt. Sie hatte Angst, dass auch du geistig zurückgeblieben sein könntest. Vor allem, da sie bei dir noch älter war als bei deiner Schwester. Sie hat mir erzählt, wie erleichtert sie war, als du gesund zur Welt kamst.” Mrs. Wheeler fuhr mit der Fingerspitze über den schwitzigen Griff des Plastikkrugs. “Ich habe mich immer gefragt, ob sie vielleicht noch einmal schwanger geworden ist. Möglicherweise hatte sie solche Angst, noch ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, dass sie …”, Mrs. Wheeler zuckte die Schultern, “… das Baby am Meer zurückgelassen hat, in der Annahme, es wäre am besten so.”
“Halten Sie das wirklich für möglich?” Rory konnte es nicht fassen.
“Ich habe wohl immer gedacht, dass sie genauso infrage kommt wie jede andere Frau in der Straße.”
Warum nicht seine Mutter? Er hatte so gut wie jede Frau in der Sackgasse in Betracht gezogen. Aber in diese Richtung zu denken, davor hatte sich sein Kopf bisher geweigert.
Er nahm einen letzten Schluck Tee. “Gut”, sagte er und stand auf, “ich sollte lieber wieder nach Hause gehen.”
“Nimm dich in Acht vor Bernadette”, warnte Mr. Wheeler.
“Cindys Nachname war Delaney, richtig?”, vergewisserte sich Rory.
Mr. und Mrs. Wheeler erhoben sich ebenfalls. “Ja, genau”, bestätigte Mrs. Wheeler. “Und warte nur, bis du sie siehst. Sie hat sich kein bisschen verändert.”
36. KAPITEL
“W ir werden wohl nicht um eine Evakuierung herumkommen”, befürchtete Daria. Sie saß neben Rory auf dem Witwensteg des Sea Shanty. “Sie haben gesagt, eine Hochdruckzone schiebt Bernadette genau zu uns.”
“Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass da draußen ein Sturm wütet”, meinte Rory.
Von der Westseite des Witwengangs blickten sie aufs Meer hinaus. Das Wasser war ruhig. Die glasigen Wellen schwappten friedlich ans Ufer. Daria hatte schon genug Stürme auf den Outer Banks erlebt, um zu wissen, wie trügerisch diese Ruhe war. Dennoch konnte sie gut nachvollziehen, wie jemand, der mit der Gegend nicht vertraut war, sich einreden konnte, der Sturm würde an ihnen vorbeiziehen. Sie jedoch brauchte keine äußeren Vorzeichen, um zu wissen, was kam. Sie spürte es in der Magengrube – eine dunkle Vorahnung, die sich immer durch ihren Körper wühlte, wenn ein Sturm drohte. Er
könnte
sie verfehlen. Möglicherweise bekämen sie nicht mehr ab als ein paar Tropfen und einen harmlosen Wind. Oder aber das Wasser würde Kill Devil Hills überfluten, die Strände zerstören und sämtliche Cottages aufs weite Meer hinausziehen. Genau diese Ungewissheit war es, die sich so in ihren Magen bohrte. Sie musste sich aufs Schlimmste gefasst machen. Sie würde die Sturmläden schließen, das Werkzeug aus der Werkstatt nach oben bringen und – das war das Wichtigste – Shelly so gut beruhigen und beschäftigen müssen wie möglich.
“Ich kann Shellys Anspannung schon jetzt spüren”, meinte Daria. “Ich glaube, sie hat den ganzen Tag noch nichts gegessen.”
“Hast du ihr gestern eine lange Standpauke gehalten?”
“Nein. Als sie nach Hause kam, war sie schon so unruhig wegen des Sturms, dass ich es nicht fertiggebracht habe.”
“Wohin gehen wir eigentlich, wenn wir die Häuser wirklich räumen müssen? Oder: Wohin geht
ihr
normalerweise?”
“In ein Motel in Greenville. Da wir gerade davon sprechen – ich sollte zur Sicherheit schon mal die Zimmer reservieren. Soll ich für dich und Zack auch eins bestellen?” Sie hoffte inständig, er würde Ja sagen, denn sie wollte ihn gern in ihrer Nähe haben.
“Das wäre toll”, antwortete er. “Und ich sollte wohl besser etwas Sperrholz besorgen, was? Ich habe so was zwar noch nie gemacht, aber ich weiß noch, dass mein Vater früher immer Holz vor die Fenster genagelt hat.”
“Ja, genau. Außerdem nimmst du am besten das 'Poll-Rory'-Schild ab, damit der Wind es nicht wegweht. Und bring die Terrassenmöbel rein, auch von der Dachterrasse.” Sie warf einen Blick zu seinem Cottage. “Den Mülleimer solltest du auch reinstellen und alles andere, was sich durch den Wind in ein Geschoss verwandeln kann.”
“Jetzt machst
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