Sommerkind
herüber, die Autotür stand halb offen. “Ich bekomme heute Besuch”, antwortete er.
“Ach so, verstehe. Dann mach's gut.” Sie schloss die Tür und setzte sich wieder, darum bemüht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie fragte sich, ob “Besuch” Grace bedeutete?
Ellen starrte auf die Straße. “Ist das …?”
“Rory Taylor”, beendete Shelly ihren Satz.
“Na, sieh mal einer an”, wunderte sich Ellen. “Ist das lange her.”
“Er wird meine richtige Mutter finden”, sagte Shelly.
“Er will es versuchen, Süße”, korrigierte Daria sie. “Du weißt, dass er es möglicherweise nicht schafft.”
“Das ist doch nur abstruse Zeitverschwendung”, polterte Ellen.
“Was bedeutet 'abstrus'?”, fragte Shelly.
“Ach komm, Shelly, du kennst das Wort”, sagte Ellen. “Hör auf, dich dumm zu stellen.”
“Ich kenne es
nicht”
, protestierte Shelly.
“Es bedeutet: Wozu um alles in der Welt soll er versuchen, deine Mutter zu finden?”, antwortete Ellen. “Was willst du denn mit ihr machen, wenn du sie erst gefunden hast? Vielleicht zu so einer niveaulosen Talksendung wie der 'Jerry Springer Show' gehen und sie anschreien, dass sie dein Leben vermurkst hat?”
“Ellen.” Chloe machte ein sehr un-nonnenhaftes Gesicht. “Bleib bitte freundlich.”
“Das würde ich niemals tun”, sagte Shelly.
Wenn die Stimme ihrer jüngeren Schwester diesen blechernen Klang annahm, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, das wusste Daria. “Wir fänden es alle besser, wenn Shelly der Sache nicht nachginge”, wandte sie sich an Ellen, “aber es ist ihr nun mal wichtig.”
Diese unerwartete Unterstützung tröstete Shelly. “Danke”, sagte sie.
“Schon gut”, meinte Ellen. “Shelly darf also endlich einmal selbst eine Entscheidung treffen. Nachdem du ihr zweiundzwanzig Jahre lang gesagt hast, wann sie sich die Nase putzen darf.”
Daria fiel keine passende Retourkutsche ein, die Chloe nicht bestürzt hätte, also hielt sie den Mund. Schon immer hatte Ellen Darias überfürsorgliche Art Shelly gegenüber kritisiert. Sie hatte von Anfang an versucht, ihre Vorgehensweise zu ändern. Ihrer Meinung nach hätte Shelly auf eine normale Schule gehen sollen. Sie hätte schon gelernt mitzuhalten. Man müsse sie zwingen, allein zu leben und einer ganz normalen Arbeit nachzugehen, so wie jeder andere es auch tue, hatte Ellen stets gesagt. Daria verhätschle sie zu sehr. Shelly habe nie gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Und so weiter und so fort.
Ellen hatte für Shellys Ängste kein Verständnis. Sogar bei Sue Catos Beerdigung, als Shelly vor lauter Kummer vollkommen neben sich gestanden und – ausgelöst durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter – mit einem Haufen neuer Ängste zu kämpfen gehabt hatte, selbst da musste Ellen sie quälen. Nach der Bestattungszeremonie gingen alle zurück ins Sea Shanty, um ein paar Sandwiches und Salat zu sich zu nehmen. Shelly saß im Wohnzimmer in einem Polstersessel, und Ellen, die um die schreckliche Angst ihrer Cousine vor Erdbeben genau wusste, schlich sich von hinten an und rüttelte am Sessel, woraufhin die damals achtjährige Shelly panisch aus dem Zimmer flüchtete. Die damals neunzehnjährige Daria verpasste ihrer älteren Cousine eine saftige Ohrfeige, was zu einer Rauferei führte, bei der sich zwar niemand verletzte, die jedoch für böses Blut gesorgt hatte.
Auf einmal stand Chloe auf. “Ich muss rüber in die Kirche”, sagte sie. “Ist es in Ordnung, wenn du hier aufräumst?” Sie sah Daria an.
“Klar, kein Problem.” Ganz schön mutig von Chloe, mich hier mit Ellen allein zu lassen; dabei muss sie doch wissen, dass ich ihr nur zu gern an die Gurgel springen würde, dachte Daria. Doch irgendwie schaffte sie es, ohne weitere Zwischenfälle zu spülen und abzutrocknen, und flüchtete dann ins Fitnessstudio. Allein.
15. KAPITEL
R ory reichte Grace ein Glas Limonade und setzte sich dann auf einen der anderen Stühle auf seiner Veranda. Sie hatten das Cottage ganz für sich. Grace war genau in dem Moment angekommen, als Zack mit Kara und ihren zahlreichen Geschwistern, Cousins und Cousinen zum Wasserpark aufgebrochen war. Rory hatte die Begegnung von Zack und Grace mit Spannung erwartet, jetzt, da offensichtlich war, dass sie aus einem anderen Grund hier war als zum Telefonieren. Doch Zack hatte Grace nur kaum hörbar gegrüßt und dann mit Kara das Haus verlassen. Anscheinend interessierte es ihn
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