Sommerkind
Geheimnis lüften?”
“Ich habe ein recht gutes Gefühl. Wer auch immer Shelly ausgesetzt hat, hat sich in den vergangenen Jahren vermutlich jemandem anvertraut. Oder sie leidet unter ihrer Tat. Vielleicht hat sie den Wunsch, nach all den Jahren wieder mit ihrer Tochter vereint zu sein.”
Zu seiner Freude öffnete sich die Tür des Sea Shanty, und Shelly trat auf den Vorplatz. Sie trug ihren weißen Bikini und den hauchdünnen Rock und wandte sich strandwärts.
“Wo wir gerade von Shelly sprechen”, sagte Rory und wies mit dem Kopf in ihre Richtung.
“Ist sie das?” Grace beugte sich in ihrem Stuhl nach vorn. Um besser sehen zu können, hob sie ihre Sonnenbrille ein Stückchen von der Nase.
“Ja”, antwortete er. “Möchten Sie sie kennenlernen?” Er wollte selbst gern noch mal mit Shelly sprechen, doch sie war bereits über die Düne verschwunden. “Wir könnten ihr nachgehen”, schlug er mit einem Blick auf Graces helle Haut vor. “Ich habe noch Sonnencreme im Haus, die Sie benutzen können.”
Grace stand auf. “Ich bin schon eingecremt”, erklärte sie.
Und so machten sie sich auf zum Strand.
“Früher war ich eine Sonnenanbeterin”, erzählte sie. Im Gehen streckte sie einen Arm nach vorn und betrachtete ihre blasse Haut. “Ist wahrscheinlich schwer zu glauben.”
“Na ja, zumindest bekommen Sie so keinen Hautkrebs.” Er fuhr zusammen. Wie unsensibel von ihm. Vielleicht
hatte
sie Hautkrebs oder einen anderen Krebs, und genau darin lag ihr Problem. Er hätte sie gern nach ihrer Krankheit gefragt, doch dann wäre er sich wie ein sensationsheischender Medienfuzzi vorgekommen.
“He, Shelly!”, rief er, als sie die Düne hinter sich gelassen hatten. Als Shelly ihren Namen hörte, drehte sie sich um, winkte und ging dann ein Stück zurück. Der Wind wirbelte ihr Haar in die Luft und wehte den Rock gegen ihre langen Beine, und Shelly fragte sich, ob die Frau neben Rory von ihrem Anblick genauso gefangen war wie sie von ihrem.
“Hi Rory”, begrüßte sie ihn.
“Ich will dich nur kurz einer Freundin vorstellen”, sagte er. “Das ist Grace.”
Shelly lächelte und hielt Grace die Hand hin. “Ich bin Shelly.” Sie trug eine kleine roséfarbene Sonnenbrille, und Rory musste lächeln. Sie passte perfekt zu ihrer Weltsicht.
Stumm schüttelte Grace Shelly die Hand.
“Dürfen wir dich ein Stück begleiten?”, fragte Rory.
“Na klar”, antwortete sie. “Unten am Wasser, ja? Ich will meine Füße hineintauchen.”
Während ihres Spaziergangs war Grace plötzlich gar nicht mehr schweigsam. Im Gegenteil: Sie bombardierte Shelly mit Fragen. Wie war ihr Job? Was gefiel ihr am besten? Was am wenigsten? Wie war ihre Kindheit? Hatte sie Freunde? Shelly beantwortete jede Frage mit der kindlichen Ehrlichkeit, die Rory inzwischen von ihr kannte.
“Rory hat mir erzählt, wie … wie Sie am Strand gefunden wurden”, sagte Grace. “Haben Sie davon schon immer gewusst? Wussten Sie von klein auf, dass Sie adoptiert sind?”
“Natürlich”, sagte Shelly. Sie kicherte. “Das war sowieso ziemlich offensichtlich. Ich meine, jeder in meiner Familie hat dunkles Haar, und niemand ist besonders groß. Und dann ich, diese blonde Bohnenstange.”
“Aber anscheinend hat Ihre Adoptivfamilie gut für Sie gesorgt, oder? Vielleicht war es ja am besten so, dass Ihre Mutter … Sie verlassen hat und Sie bei einer guten Familie gelandet sind.”
“Keine Frage”, meinte Shelly. “Meine Familie ist wirklich prima.”
“Waren Sie denn schon immer so groß?”, fragte Grace weiter. “Ich meine, waren Sie früher immer das größte Mädchen in der Klasse? Sie sind fast so groß wie ich.”
“Jepp”, sagte Shelly. “Ich glaube sogar, ich bin größer als Sie.” Mit den Augen maß sie Graces Größe ab. “Der Strand fällt ab, ist schwer zu sagen.”
“Als Kind haben mich die anderen Kinder immerzu aufgezogen”, erzählte Grace. “Sie haben gesagt, ich sähe aus wie Popeyes Olivia. Wurden Sie auch so gehänselt?”
“Nein, eigentlich nicht. Das hätte Daria gar nicht erst zugelassen.”
“Daria ist ihre Schwester”, erklärte Rory zur Sicherheit noch einmal.
Grace nickte. “Ja. Diejenige, die sie am … die Shelly gefunden hat.”
“Sie ist 'Supergirl'“, ergänzte Shelly.
“Sie meinen … weil sie Sie gerettet hat?”, fragte Grace.
“Mich und viele andere Menschen. Sie ist Rettungsassistentin. Na ja, oder zumindest war sie es einmal.”
“Klingt nach einer ganz besonderen
Weitere Kostenlose Bücher