Sommerkind
falschen Bericht geschrieben habe. Ich habe
gelogen.”
Sie schlug sich mit der Faust aufs Knie. “Ich habe bei einer so wichtigen Sache noch nie gelogen, aber ich konnte Shelly in diesen Schlamassel einfach nicht mit reinziehen. Pete hat gesagt, die Pilotin wäre vielleicht auch so gestorben, aber ich weiß nicht …”
“Was für ein Albtraum.”
“Deshalb habe ich die Arbeit als Sanitäterin an den Nagel gehängt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieder zu einem Einsatz zu fahren. Ich konnte die Vorstellung, noch ein Unfallopfer zu verlieren, einfach nicht ertragen. Und ich habe mich … nein, ich hasse mich immer noch dafür, weil ich Shelly erlaubt habe, zu uns rauszuschwimmen; und weil ich ihren Fehler vertuscht habe. Die Leute hier sehen zu mir auf, und ich fühle mich wie eine elende Betrügerin.”
“Ich finde, du hast das einzig Richtige getan. Was hätte es denn gebracht, Shelly an den Pranger zu stellen? Es hätte sie bloß verletzt, aber geändert hätte es rein gar nichts.”
“Ich hätte sie erst gar nicht zum Flugzeug schwimmen lassen dürfen.”
“Aber du dachtest doch, sie könnte euch helfen. Hat sie dir jemals zuvor einen Anlass gegeben zu glauben, dass sie einen Fehler von dieser Tragweite machen könnte?”
“Nein”, gestand sie ein. “Deshalb war ich ja auch so erschrocken. Es war so kalt im Wasser. So versuche ich, es mir schönzureden. Vielleicht haben die Kälte und die Aufregung sie so verwirrt, dass sie die Situation nicht mehr richtig einschätzen konnte. Wir alle waren durcheinander. Ich glaube, keiner von uns konnte noch klar denken.”
“Wie ist die Sache zwischen dir und Pete ausgegangen?”
“Pete war so enttäuscht, dass er praktisch schon am nächsten Tag nach Raleigh gezogen ist. Auch er hat bei der Rettung aufgehört; vermutlich aus demselben Grund wie ich. Trotzdem – mir fehlt die Arbeit so.” Wieder brach ihre Stimme.
Für einen Moment schwiegen sie beide und lauschten nur dem Meeresrauschen.
“Warum hast du das heute Abend gemacht?”, fragte Rory schließlich. “Wieso bist du zur Unfallstelle gefahren?”
“Ich hatte gehofft, ich würde irgendeine Kraft in mir finden und helfen können. Sie sind wirklich stark unterbesetzt, das weiß ich. Aber als ich dort ankam und sah, wie schwer der Unfall war, bin ich zur Salzsäule erstarrt. Ich würde es einfach nicht verkraften, wenn noch mal jemand in meinen Armen stirbt. Und ich fühle mich dabei so egoistisch.” Wieder schlug sie sich mit der Faust aufs Knie. “Egoistisch. Schuldig. Feige …”
“Shhh.” Rory zog sie behutsam noch näher an sich heran und legte seine Arme fester um sie.
Ihr Kopf sank an seine Brust. “Entschuldige”, sagte sie dann und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
“Was denn?”
“Dass ich das alles auf dir ablade. Du bist der Einzige, dem ich es erzählt habe.”
“He, ich freue mich darüber”, sagte er mit weicher Stimme. “Auch wenn ich weiß, dass du mir eigentlich nur davon erzählt hast, um mir klarzumachen, wie schlecht es um Shellys Urteilsvermögen bestellt ist. Aber es ist doch ein riesiger Unterschied, ob man in einer Extremsituation den Überblick verliert oder ob man wissen möchte, wer die eigenen Eltern sind. Stimmst du mir da zu?”
Daria schloss die Augen. Natürlich hatte er recht. “Ich schätze schon”, sagte sie schwach.
Sie spürte, wie er den Kopf zur Sackgasse drehte. Zack und Kara schlenderten über die Straße. Sie sahen fast aus wie eine Person, so eng schmiegten sie sich aneinander.
“Sie sehen uns nicht”, flüsterte Rory.
Zack und Kara blieben vor dem Cottage der Wheelers stehen, wandten sich einander zu und verharrten in einer langen und innigen Umarmung.
“Ich mache mich wohl besser mal bemerkbar”, sagte Rory. Bevor er aufstand, drückte er noch einmal sanft ihre Schultern. Dann fragte er: “Kann ich dich allein lassen?”
“Ja. Es geht mir gut.” Sie lächelte ihn an. “Danke fürs Zuhören.”
“Jederzeit.” Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. “Dafür sind Freunde doch da.”
19. KAPITEL
I n jener Nacht wurde Daria nicht von Albträumen geplagt. Im Gegenteil: Sie träumte, dass sie und Rory in Afrika waren und auf dem Rücken eines Elefanten eine goldene Ebene durchritten, die so flach und weit war, dass sie unendlich zu sein schien. Auf den Elefanten hinter ihnen ritten andere Leute. Shelly war da. Und Jill. Darias Mutter. Und Menschen, die
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