Sommerkind
Daria.
“Dann schreib ihn so, wie du es getan hättest, wenn ich dir nichts erzählt hätte. Tu so, als hätte ich nichts gesagt.”
“Shelly würde es nicht verkraften, wenn sie …”
“Ich weiß. Deshalb … solltest du meine Worte einfach vergessen.”
Sie nickte wie betäubt. Sie hatte keine Wahl, und welchen Unterschied würde es jetzt noch machen? Die Pilotin war tot. Nichts würde sie wieder lebendig machen.
Sie entdeckte Shelly in der sich allmählich lichtenden Menge, ging zu ihr hinüber und legte den Arm um ihre zuckenden Schultern. “Komm, Liebes”, sagte sie. “Mein Auto steht an dem Cottage, wo ich gearbeitet habe. Ich schreibe kurz den Bericht, und dann fahren wir nach Hause.”
Schweigend gingen sie zum Auto. Ein paar Häuser weiter stand Petes Pritschenwagen, und Daria fragte sich, wie lange er wohl noch bliebe. In die Decke gehüllt setzte sie sich hinters Steuer und angelte ihr Notizbuch mit den Berichtformularen von der Rückbank. Sie legte es auf die Knie und fing an zu schreiben. Das Flugzeug begann plötzlich zu sinken, und die Retter konnten nichts dagegen tun, schrieb sie. In der Einsatzbesprechung am nächsten Tag würde sie dieselbe Geschichte erzählen müssen. Das war das erste Mal, dass sie in ihrer Laufbahn als freiwillige Rettungsassistentin log, und sie fragte sich, ob irgendetwas jemals das Schuldgefühl lindern könnte, das sie bis in die Eingeweide spürte.
Als sie mit dem Bericht fertig war, klappte sie ihr Notizbuch zu und blickte auf die Straße. Petes Wagen war weg. Er musste unmittelbar an ihrem Auto vorbeigegangen sein und hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sich von ihr zu verabschieden. Sie machte sich Sorgen um ihn, genauso wie um sich selbst.
Weder sie noch Shelly sprachen auf der Heimfahrt ein Wort. Das einzige Geräusch im Wagen war das Geklapper von Shellys Zähnen.
Nachdem sie und Shelly an jenem Abend in der Küche des Sea Shanty still zu Abend gegessen hatten und danach erschöpft ins Bett gefallen waren, rief Pete an. Daria stellte das Telefon vom Nachttisch auf ihr Kopfkissen.
“Wie geht es dir?”, fragte Pete.
“Nicht so besonders”, antwortete sie. Alles schien falsch. Sie hatte im Bericht gelogen, Shelly hatte ahnungslos einen schrecklichen Fehler gemacht, und eine junge Frau war vor ihren Augen einen grausamen Tod gestorben. Sie blickte zur dunklen Decke und hielt den Hörer ans Ohr.
“Ich weiß”, sagte Pete. “Das war eine grässliche Sache.”
“Mmmm.”
Sie hörte, wie Pete Luft holte. “Ich finde, wir sollten über Shelly sprechen.”
Ihre Muskeln spannten sich an. Dies wäre nicht ihre erste Diskussion über Shelly, aber diesmal hatte er die besseren Karten. “Ich will nicht”, erklärte sie.
“Aber wir müssen”, entgegnete Pete. “Das heute war der eindeutige Beweis, dass sie mehr braucht, als du ihr geben kannst, Daria. Ich weiß, du willst das nicht hören, aber du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Ihr Urteilsvermögen ist armselig. Sie braucht eine betreute Wohngruppe. Das siehst du jetzt doch auch ein, oder? Daria?”
Daria schloss die Augen. “Shelly bleibt bei mir.”
Pete seufzte.
“Ich weiß genau, warum du sie abschieben willst”, sagte Daria. “Wenn sie irgendwo in einer … betreuten Wohngruppe, wie du es nennst, lebt, bin ich frei und kann mit dir nach Raleigh gehen.” Man hatte Pete eine Verwaltungsstelle in einer großen Baufirma in Raleigh angeboten, einen Job, den er gern annehmen wollte, und er hatte Daria bekniet, mit ihm zu gehen. Doch als sie vor Kurzem seinen Heiratsantrag angenommen hatte, hätte sie nie gedacht, dass dies den Abschied von den Outer Banks bedeuten würde. Den Abschied von Shelly. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Shelly jemals allein würde leben können, aber diese Betreutes-Wohnen-Kiste, zu der Pete sie ständig drängen wollte, stand nicht zur Debatte. In den vergangenen Wochen hatte sie sich zerrissen gefühlt – auf der einen Seite ihre Schwester, auf der anderen der Mann, den sie heiraten wollte. Sie konnte nicht ohne Shelly nach Raleigh ziehen, und Shelly würde die Outer Banks – den einzigen Ort auf der Welt, an dem sie sich geborgen fühlte – nie und nimmer verlassen.
“Nun ja”, meinte Pete, “das wäre natürlich ein schöner Nebeneffekt. Aber es geht mir wirklich nur darum, was das Beste für Shelly ist.”
“Genau wie mir.”
Pete versuchte es aufs Neue. “Was würde passieren, wenn ich damit einverstanden wäre, dass Shelly bei
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