Sommerkind
sie nicht kannte. Die lange Reihe von Elefanten und Reitern zog sich weit hinter ihr und Rory her und schlängelte sich schließlich am Horizont dahin. Doch die anderen Menschen waren ihr gleichgültig. Sie saß hinter Rory, die Arme eng um seine Taille geschlungen. Der rhythmische Gang des Elefanten, seine Wirbelsäule zwischen ihren Beinen und das Gefühl, Rorys Körper unter ihren Händen zu spüren, erregten sie, und sie konnte die Ankunft an ihrem Ziel kaum erwarten. Dort würden sie und Rory sich in eine kleine Hütte zurückziehen, wo sie endlich allein wären.
Daria erwachte, bevor ihr Elefant die Hütte erreicht hatte, und stöhnte bei der Erkenntnis, dass sie nur in ihrem vom Meeresduft erfüllten Schlafzimmer lag. Ihr Körper war von ihrem surrealen erotischen Ritt quer durch die Ebene noch immer wie elektrisiert, und sie blieb einfach ein Weilchen im Bett liegen, um das Geträumte noch einmal zu durchleben.
Schließlich duftete es in ihrem Zimmer so stark nach Seegras und Kaffee, dass sie wieder in die Realität zurückkehren musste und aufstand. Als sie auf die Veranda kam, saßen Chloe und Shelly bereits beim Frühstück am Picknicktisch. Sie setzte sich neben Shelly und beschäftigte sich damit, Müsli in ihr Schälchen zu schütten und einen Pfirsich zu zerkleinern. Sie wollte den Traum einfach nicht loslassen. Ihr Körper brannte immer noch von den körperlichen Freuden, die er ihr bereitet hatte, und immer wieder wurde ihr Blick vom Poll-Rory magisch angezogen.
Wenn sie ihre Gefühle für Rory doch nur Chloe und Shelly offenbaren und einen schwesterlichen Rat einholen könnte. Aber das war unmöglich. Sie hatte es stets vermieden, mit Chloe über Liebe und Leidenschaft zu sprechen. Es schien ihr nicht fair, mit ihr darüber zu reden, wenn sie diese Gefühle aufgrund ihres Keuschheitsgelübdes nicht selbst ausleben durfte. Und Shelly würde viel zu viel Aufhebens darum machen. Sie brächte es sogar fertig und ließe Rory gegenüber eine unangemessene Bemerkung fallen. Und außerdem – welchen Rat sollte Shelly ihr schon geben?
Die Veranda war erfüllt von Shellys Geschnatter. Sie habe am Morgen einen perfekten kleinen Seestern am Strand gefunden, erzählte sie. Und Dutzende kobaltblaue Glasstücke.
Chloe war still. Seltsam still. Dann, endlich, unterbrach sie ihre Schwester. “Shelly”, sagte sie sanft, “kannst du uns verraten, warum du auf einmal wissen willst, wer deine leibliche Mutter ist? Ich hatte bisher nie den Eindruck, dass du darüber nachdenkst, und ich verstehe nicht, warum das plötzlich so wichtig für dich ist.”
Abrupt änderte sich Shellys Gesichtsausdruck. Sie sah in ihre Müslischale und stocherte mit dem Löffel in den aufgeweichten Flocken herum. Daria nahm in ihren Augen einen Tränenschimmer wahr, der sie überraschte, und während sie auf die Antwort ihrer jüngeren Schwester wartete, wuchs ein Kloß in ihrem Hals.
Shelly sah zu ihnen auf. “Ich wollte es schon
immer
wissen”, sagte sie. “Ich habe nur nie darüber gesprochen. Ich wollte Dads Gefühle nicht verletzen. Aber jetzt, wo er nicht mehr bei uns ist, dachte ich, ich könnte es endlich herausfinden. Ihr wisst beide, wer eure Eltern sind. Ich habe Mom und Dad geliebt, und ich bin sehr glücklich, dass sie meine Eltern waren. Aber ich muss mehr wissen.” Eine Träne löste sich aus dem unteren Wimpernrand und kullerte über ihre Wange.
Chloe beugte sich vor und legte ihre Hand auf Shellys. “Ich möchte nur nicht, dass du enttäuscht wirst”, erklärte sie ihr. “Ich möchte nicht, dass du dir Hoffnungen machst, die am Ende zerstört werden.”
“Ich weiß”, sagte Shelly. Sie schnäuzte sich mit der Serviette die Nase.
Darias Herz wurde schwer. Sie hatten an Shellys gutmütige und immer gut gelaunte Art unbesehen geglaubt. Nicht ein Mal hatten sie den Schmerz gesehen, der sich dahinter verbarg.
“Vergiss nur nicht”, sagte Chloe, “dass wir dich lieben, egal was du erfährst oder nicht erfährst. Daria und ich lieben und bewundern dich. Und nichts, was du herausfindest, wird daran je etwas ändern.”
Daria fing Chloes Blick auf und versuchte, die Botschaft in ihren Augen zu lesen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob Chloe vielleicht wusste, was sich vor all den Jahren an jenem Morgen zugetragen hatte. Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauder über den Rücken. Vielleicht ist es an der Zeit, Shelly die Wahrheit zu sagen, dachte sie. Vielleicht ist es für alle an der Zeit zu erfahren, was sich
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