Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
drang und sie durchbrach, waren die Winterelfen eine erschreckende Macht.
Meine erschreckende Macht.
So beruhigend es auch war, einen so starken Hof zu haben, so gewaltig war der Druck, unter dem sie stand. Sie hatte nie gedacht, dass sie einmal alleinige Regentin eines Elfenhofes sein würde. Als sie noch sterblich gewesen war, hatte sie davon geträumt, Keenans Gefährtin zu werden und an seiner Seite zu regieren. Kaum mehr als anderthalb Jahre war es her, dass sie damit gerechnet hatte, von Beiras Hand zu sterben. Jetzt versuchte sie die Rolle auszufüllen, die ihr zugefallen war. »Es gibt Tage, an denen ich mich auf das, was auf mich zukommt, überhaupt nicht vorbereitet fühle.«
»Niemand ist auf einen Krieg vorbereitet«, sagte Evan.
»Ich weiß.«
»Du regierst den mächtigsten Hof. Du allein. Du kannst die anderen dabei anführen, Bananach zu stoppen.«
»Und was, wenn ich es nicht kann?« Einen kurzen Moment lang zeigte sie sich ihm unverstellt, ließ ihre Angst in ihre Stimme sickern.
»Du kannst es.«
Sie nickte. Ja, wenn sie ihren Zweifeln nicht die Oberhand ließ, konnte sie es. Sie straffte die Schultern und schaute zu Evan hoch. »Wenn ich den Frühling noch einmal früh anbrechen lasse, wird der Sommer weiter erstarken und fast ein gleichwertiges Gegengewicht zu unserem Hof bilden. Ich rede mit Ashlyn. Du siehst zu, was du über die Dunkelelfen herausfinden kannst, und schickst nach den Hunden. Sasha und die Weißdornmädchen werden mich nach Hause bringen.«
»Wie du wünschst.« Evan nickte ihr voller Stolz zu und ging davon. Sie blieb mit dem Wolf und den drei Weißdornmädchen zurück, die bis auf das Sirren ihrer Flügel still waren.
Zwei
Die ersten Monate nach seinem Weggang aus Huntsdale hatte Keenan mit Wandern verbracht, aber nach Jahrhunderten der Regentschaft konnte er nicht lange ohne Beschäftigung bleiben; die Pflichten eines Sommerkönigs holten ihn immer wieder ein. Ein Ausbruch von Gewalt erschien von Tag zu Tag unvermeidlicher, doch der Sommerhof war noch nicht stark genug, um in kriegerischen Auseinandersetzungen bestehen zu können. Deshalb hatte Keenan die letzten fünf Monate dazu genutzt, Verbündete zu suchen – bislang jedoch erfolglos.
Seine Treffen mit verschiedenen ungebundenen Elfen, insbesondere denen in der Wüste, waren nicht gut verlaufen, aber Keenan hoffte nun auf die aus dem Meer. Während der letzten Monate hatte er sich immer wieder am Meer gezeigt und dann zurückgezogen. Diesmal würde er so lange dort bleiben, bis sie mit ihm sprachen.
Anlocken und zurückweichen. Auftauchen und sich wieder entziehen. Die Annäherung an ungebundene Elfen ähnelte in vielerlei Hinsicht der Art, wie er über die Jahrhunderte zahllose sterbliche Mädchen umworben hatte: Je nach ihrer Persönlichkeit brauchte man eine andere Strategie. Bei Elfen vom Hof musste er das Protokoll einhalten. Bei ungebundenen, die sich in Gruppen organisierten, musste er die Charakterzüge hervorstreichen, die sie besonders schätzten. In der Wüste waren das Stärke und manipulative Verhandlungsführung; am Meer Versuchung und scheinbares Desinteresse.
Ein grünhäutiger Meermann öffnete seinen Schnurrbart-Mund zu einem falschen Gähnen, zeigte Keenan seine gezackten Zähne und starrte dann weiter stumm vor sich hin. Wasserelfen stellten selten Fragen, da sie sich für die Dramen der Landbewohner schlicht nicht interessierten, doch mit Geduld konnte man ihre Neugier wecken. Darauf zählte Keenan.
In ihrer Sprunghaftigkeit waren Wasserwesen seinem Hof charakterlich näher als andere, doch manchmal benahmen sie sich derart unberechenbar, dass selbst der Regent des impulsivsten aller Höfe ins Staunen geriet. Ganz gleich ob Fluss-, See- oder Meerelfen – ihre Stimmungen zerrannen wie das Wasser, in dem sie lebten.
Keenan lief den Strand entlang. Und wartete. Das Wasser hob sich in hübsch geformten Wellen; der Himmel war von reinstem Blau und die südliche Luft mild. Wenn er einfach nur mit dem Blick eines Sterblichen ins Meer schaute, sah er bunte Fische durchs kristallklare Wasser schießen. Muscheln glitten, von den Wellen hin und her geschoben, über den Sand, und der Sommerkönig genoss die Schönheit des Meeres. Es war eine willkommene Atempause: Neun Jahrhunderte hindurch hatte er niemals Zeit gehabt, etwas anderes zu sein als der Sommerkönig. Wenn er nicht damit beschäftigt gewesen war, seinen geschwächten Hof aufzupäppeln, hatte er auf der Suche nach seiner fehlenden
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