Sommermaerchen
hatte nie in Betracht gezogen, dass er einmal Kinder haben würde. Oh, natürlich war ihm bewusst gewesen, dass die Möglichkeit bestand. Er war kein Narr.
Indes hatte er diesen Gedanken weit von sich geschoben und nur an die unmittelbaren Vergnügungen ihrer Liebe gedacht, nicht an die möglichen Folgen.
Kinder waren ein Grund, warum er nicht hatte heiraten wollen. Er konnte nicht vergessen, wie elend er sich nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders gefühlt hatte. Darum wollte er nicht riskieren, dass ein anderer Mensch eine ebensolch große Trauer seinetwegen durchleiden musste. Und der Gedanke, dass er erneut eine solche Qual durchleiden könnte ... Die Gefahr, noch einen weiteren geliebten Menschen zu verlieren ...
Kinder waren so anfällig für Krankheiten und Unfälle, manchmal starben sie sogar vor oder während der Geburt. Und es gab auch Frauen, die Geburten nicht überlebten. Hatte nicht Beatrice erzählt, ihre eigene Mutter sei bei der Geburt von Helen gestorben?
Charles stöhnte auf. Zur Hölle. Was dachte sich seine Gattin dabei, durch das halbe Land zu reisen, wo sie in ihrem Zustand eigentlich im Bett liegen sollte? Sie hatte kein Recht ihn zu verlassen, sich selbst und ihr Kind einer solch großen Gefahr auszusetzen.
Er stand auf, verspürte Wut, Sorge und Furcht gleichermaßen. Doch die Wut gewann schließlich die Oberhand. Beatrice hatte versucht, ihm zu verheimlichen, dass sie ein Kind erwartete. Warum?
Rastlos ging er im Zimmer auf und ab. Er würde sie nicht zurückholen, denn schließlich wollte er Abstand von ihr gewinnen, nicht wahr? Durch ihre Abreise machte sie es ihm nur leichter.
Es war immer noch Nacht, der Vollmond schien hell durchs Fenster. Charles zog sich das Kissen über den Kopf. Er konnte nicht schlafen. Ruhelos wälzte er sich im Bett, bevor er schließlich aufgab und aufstand.
Er wusste, wenn er länger im Bett blieb und die Decke anstarrte, würde er wahnsinnig werden. Vielleicht fand er im Arbeitszimmer ein langweiliges Buch, das ihm helfen würde einzuschlafen.
Auf dem Weg zum Arbeitszimmer kam er an der Galerie vorbei. In dem Monat, den er mit Beatrice hier verbracht hatte, war er nicht ein einziges Mal dort gewesen, doch nun zog es ihn wie magisch dorthin. Zögernd betrat er den langen Saal. Weder nach rechts noch nach links schauend ging er geradewegs zum Porträt seines Vaters.
Er hatte es seit Jahren nicht mehr betrachtet, doch es war ihm noch lebhaft vertraut.
Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie ähnlich er seinem Vater sah, und er wünschte inständig, dass diese Ähnlichkeit nicht nur äußerlich wäre. Er wusste, er würde nie so sein wie sein Vater. Zwar war er ehrenwert, ein guter Sohn, Bruder und Freund. Doch er besaß nicht die Fähigkeit seines Vaters, Liebe zuzulassen – zu lieben und geliebt zu werden. Diese Fähigkeit war es, die er am meisten vermisste.
Vor Kummer unfähig, das Bildnis seines Vaters noch länger zu betrachten, senkte er den Blick. Dabei fiel ihm der kleine Riegel in der Wandtäfelung ins Auge, und eine weitere Erinnerung stieg in ihm auf. Die Tür zum Gang.
Die Legende besagte, dass der erste Marquess of Pelham den Gang hatte errichten lassen, um ungehindert einer Affäre mit der Gouvernante seiner Kinder nachgehen zu können. Er selbst und sein Bruder hatten sich indes immer ausgemalt, dass er ein Agent der Königin gewesen war und den Tunnel benutzte, um ungesehen seinen Hausgästen nachzuspionieren.
Ohne zu überlegen öffnete Charles die Tür und betrat den Gang. Nach wenigen Schritten stieß er an einen festen großen Gegenstand. Er tastete danach und spürte die glatte Leinwand und den Holzrahmen. Die Erinnerung jagte einen kalten Schauer über seinen Rücken. Er zog das Gemälde aus dem Gang und lehnte es an die Wand.
Das Porträt zeigte seinen Vater, Mark und ihn. Mark war auf dem Bild erst drei Jahre alt gewesen und saß auf dem Schoß ihres Vaters, der fünfjährige Charles stand neben ihnen. Seit Jahren hatte er das Bild nicht mehr gesehen, doch er wusste noch genau, wann er es in dem Gang versteckt hatte. Es war an dem Tag der Beerdigung gewesen ... Die Trauergäste hatten im Salon beisammengesessen, er aber wollte allein sein. Er hatte sich in die Galerie geflüchtet und das Gemälde angesehen, hatte erkannt, dass sie nie wieder zu dritt vereint sein würden, so wie auf dem Bild.
Plötzlich hatte er den Anblick des Porträts nicht länger ertragen können. Deshalb hatte er das Gemälde abgenommen und in den
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