Sommermond
halbgeöffneten Lippen rutschen, mit denen er eine der kühlen Ecken umschloss. Er starrte vor sich ins Leere und versuchte nachzudenken. Doch sein Kopf war zu voll. Er war wütend, aber gleichzeitig ruhig. Er war verzweifelt, aber gleichzeitig gefasst. Die Worte des Spaniers hallten durch seinen Kopf. Er versuchte sie zu ordnen und zu verstehen. Doch die Erkenntnis über das, was ihm nun bevorstand, kam nur langsam. Er brauchte ganze Minuten, bis er verstand, dass der Plan, den er vor dem Telefonat mit dem Spanier geschmiedet hatte, nun nichtig war. Nach und nach begriff er, welche Aufgabe ihm der Spanier in Wahrheit auferlegt hatte. Dabei erkannte er, wie naiv er gewesen war. Wie hatte er nur glauben können, dass dem Spanier ein Name genügte, um ihn in Ruhe zu lassen? An einen Namen zu kommen war nicht schwer. Dafür hätte sich der ganze Aufwand kaum gelohnt. Doch er war blind gewesen. Er hatte Ben und sich schützen wollen. Mit allen Mitteln. Deshalb hatte er die Dinge nie genauer hinterfragt, sie einfach hingenommen – in der Hoffnung, dass bald alles vorbei sein würde. Wie ein Alkoholiker, der noch einen Schluck trank und gleichzeitig davon sprach, mit dem Trinken aufhören zu wollen.
Er hatte die Wahrheit nicht sehen wollen. Alle anderen hatten sie gesehen. Jo, Ben, Kommissar Wagner. Nur er nicht. Er hatte sich an seinen Glauben geklammert, seinen Job gemacht und dabei jeden Tag gehofft, bald aus dem Albtraum zu erwachen. Doch nun war das Gegenteil der Fall. Jetzt stand er hier, vor der Villa, mit dem Wissen, dass all das, was er bislang getan hatte, nur der Anfang von etwas wesentlich Größerem war. Und damit saß er mächtig in der Scheiße. Das wurde ihm nun deutlich bewusst. Dennoch blieb er unpassend ruhig und kam sich dabei schon fast etwas verrückt vor. Er stand einfach da, erkannte sein seelisches Todesurteil und war kurz davor, vor lauter Selbstironie loszulachen. Vielleicht lag das auch am Alkohol in seinem Blut. Doch das glaubte er nicht. Er war sich sicher, dass er sich nicht nur verrückt fühlte, sondern es längst geworden war. Er war nicht mehr normal, und würde das wahrscheinlich auch nie wieder werden. Er hatte sich aufgegeben, wusste nicht mehr, wer er war. Er fragte sich sogar, wofür er das alles noch tat. Für Ben? Für sein reines Gewissen? Warum schmiss er nicht alles hin und sprang von einer Brücke? Vermutlich wäre das die bessere Alternative, als sein miserables Leben in dieser Art und Weise fortzuführen; als einfach zu funktionieren wie ein Roboter ohne Gefühle.
Er konnte kaum glauben, was er soeben erfahren hatte. Der Spanier hatte ihn in eine Sackgasse gelockt, aus der er nicht mehr herauskam. Er wusste nicht, was er noch tun und denken sollte. Deshalb entschied er sich dafür, auch noch den übrigen Rest seines Verstands zu betäuben. Er brauchte mehr Alkohol. So viel, bis er irgendwann einschlafen und vielleicht am nächsten Morgen aus dem Albtraum erwachen würde.
Also trat er zwei weitere Schritte nach vorn und steckte den Schlüssel, den er schon die ganze Zeit bereit hielt, in das Schloss. Mit einem leisen Klicken öffnete er die Tür, trat in den Eingangsbereich und schaltete das Licht an. Er befreite sich aus seinen Schuhen und ließ den Schlüsselbund klirrend auf die Kommode fallen. Einen Blick in den Spiegel wagte er nicht. Er wusste, wie bescheiden er aussah. Er wusste, wie blass er war, und dass er auch mit den nachgewachsenen Millimetern viel zu kurze Haare hatte, die ihn immer wieder aufs Neue erschraken, sobald er in einen Spiegel blickte.
Als er über den kühlen Marmor schritt, sah er, dass Licht im Arbeitszimmer brannte. Offensichtlich war sein Vater noch wach. In den letzten Wochen ging er oft spät ins Bett. Seit dem Zeitungsartikel hatte er sich verändert. Es war fast, als hätte man ihm zum ersten Mal den Boden unter den Füßen weggerissen. Schon komisch. Der Tod seiner Frau schien ihn damals weniger belastet zu haben. Doch ein öffentliches Gerücht genügte, um ihn an den Rand seiner Verzweiflung zu bringen.
Nach dem ersten Zeitungsartikel waren noch zwei weitere gefolgt. Alex erinnerte sich sogar daran, einmal im Radio erwähnt worden zu sein. Doch er hatte nur mit einem halben Ohr hingehört, erinnerte sich nur daran, dass es längst nicht mehr um den angeblichen Mordverdacht gegangen war, sondern um Jos Vaterdasein, das in Frage gestellt wurde. Die gierigen Journalisten hatten sogar den Tod seiner Mutter hervorgekramt und sich ihre
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