Sommermond
Schreibtischstuhl hing das weiße Hemd, das Alex gestern getragen hatte. Ben stand auf, riss es von der Lehne und taumelte zum Bett zurück. Er nahm es in beide Hände, drückte es in sein Gesicht und atmete tief ein. Alex‘ Duft hing in den Fasern des Stoffs. Es roch nach Rauch und Parfüm, vor allem aber roch es nach Alex. Nein. Es duftete nach Alex. Ben nahm noch ein paar Züge, bevor er das Hemd aus seinem Gesicht zog. Er behielt es in seinen Händen und atmete tief durch. Mit Alex‘ Duft in der Nase erinnerte er sich an den Sex. Alles war so unerwartet passiert. Er war nicht auf Sex aus gewesen, hatte eigentlich mit Alex über seine Probleme reden wollen. Doch dann hatte eins zum anderen geführt, und er bereute es nicht. Es war sein erster Sex seit langem gewesen. In der ganzen Zeit, in der er und Alex keinen Kontakt gehabt hatten, war er dem Blonden treu geblieben. Zwar hatte er es das ein oder andere Mal mit jemand anderem versucht, sich aber nie richtig fallen lassen können. Er hätte nie damit gerechnet, noch einmal mit Alex im Bett zu landen. Das Merkwürdigste an der Sache war, dass er Sex mit Alex anders in Erinnerung gehabt hatte – wilder und hemmungsloser. Doch der Sex gestern war ruhig und zärtlich gewesen. Es war, als hätte ihre Liebe plötzlich eine größere Rolle gespielt. Umso schmerzvoller war es, sich vorzustellen, dass Alex es in der Zeit seiner Abwesenheit mit zig anderen Kerlen getrieben hatte. Dieser Gedanke verpasste ihm einen Stich ins Herz. Er war eifersüchtig. Das konnte er nicht länger leugnen. Was, wenn er sich die gefühlsvolle Seite beim Sex nur eingebildet hatte? Was, wenn er für Alex mittlerweile nicht mehr war als einer seiner One-Night-Stands?
Ben musste kräftig schlucken. In dem Regal an der Wand stand das in braunem Leder eingebundene Album, aus dem er sich das Foto von Alex geliehen hatte. Er hatte beschlossen, das Bild zu behalten. Es war ohnehin zu zerknittert, als dass er es einfach zurücklegen konnte. Er behielt es als Erinnerung, denn, egal in welche Richtung sich ihre Beziehung noch entwickelte, würde sie ein wichtiger Bestandteil seines Lebens bleiben. Durch Alex hatte er ganz neue Einblicke ins Leben erhalten, andere Seiten entdeckt, und erfahren, dass viele Dinge nicht selbstverständlich waren.
Er seufzte noch einmal, bevor er sich vom Bett erhob, das Hemd zurück über die Lehne hängte und das Zimmer anschließend verließ. Im Flur überlegte er, was er als nächstes tun sollte und entschied sich dafür, sich in den Wintergarten zu begeben, um zu lesen. Dafür holte er sich noch schnell „The Confess i on“ von John Grisham aus seinem Zimmer. Das Buch hatte er sich zum Auffrischen seiner Englischkenntnisse für New York besorgt. Er hoffte, sich mit dem Lesen ablenken zu können.
Er hastete die Treppe hinunter, durchquerte den Flur und trat in den Wintergarten. Als er sich dort umblickte, überkamen ihn Schauer an Erinnerungen. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie oft er hier mit seinem Laptop gesessen und gearbeitet hatte.
Es war dunkel und warm im Wintergarten. Ben schritt zur Couch und legte das Buch vor sich auf den Tisch. Dann setzte er sich und warf einen Blick durch die Glasfront zum Pool. Der Raum sah aus, als wäre er schon lange nicht mehr betreten worden. Die Fliesen glänzten, das Wasser stand still. Ben erinnerte sich daran, wie er Alex zu Beginn seines Praktikums beim Duschen beobachtet hatte. Heimlich. Als Alex ihn bemerkt hatte, war er ausgerastet. Damals hatte Ben seine Überreaktion verwirrt, heute musste er darüber schmunzeln. Er hatte das Temperament des Blonden lieben gelernt. Es zeichnete ihn aus, machte ihn zu jemand Besonderem.
Er lehnte sich in der Couch zurück und zog das Buch auf seinen Schoß.
#1 NEW YORK TIMES BESTSELLER, stand ganz oben auf dem Cover, das des Weiteren mit dem Namen des Autors und dem Titel gefüllt war – im Hintergrund eine goldene Justizia mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand.
Ben klappte das Buch auf, überflog die ersten Seiten und versuchte sich auf den Text einzulassen. Er las die aneinandergereihten, englischen Vokabeln, nahm ihren Inhalt aber nicht auf. Er war zu aufgewühlt. Seine Gedanken schweiften ständig ab. Immer wieder erinnerte er sich an Alex‘ Worte. Daran, wie er ihn eindringlich darum gebeten hatte, die Polizei aus der ganzen Sache herauszuhalten. Als nächstes musste er dann an das Treffen mit Wagner denken, woraufhin sich sein Magen beißend
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