Sommermond
irgendwann an Alex‘ Grab stehen und sich vorzuwerfen zu müssen, nichts unternommen zu haben, um seinen Tod zu verhindern.
Die Kerle waren gefährlich. Sie hatten Alex entführt und misshandelt und zwangen ihn jetzt zu Dingen, die sein Leben ruinierten. Ben hatte Wagner alles erzählt, was er wusste. Der Kommissar hatte ihm versprochen, Alex sauber aus der Sache herauskommen zu lassen, sollten sie Erfolg bei der Festnahme haben. Das war eine inoffizielle Abmachung: Ich helfe dir, du hilfst mir. Eine Hand wäscht die andere.
In dieser Hinsicht musste er Wagner vertrauen. Er hatte Ben versprochen, nichts von dem, was Alex durchgemacht hatte, an die große Glocke zu hängen. Er wollte die beiden Banden. Mehr nicht.
„Johannes Tannenberger werde ich telefonisch informieren“, sagte Wagner, während sie am Ende des Sandweges ankamen.
„Muss das sein?“, fragte Ben.
„Natürlich muss das sein“, erwiderte Wagner. „Er muss Bescheid wissen, bevor er Verdacht schöpft und sich einmischt.“
„Verstehe …“, murmelte Ben.
Er blieb vor dem silberfarbenen Dienstwagen stehen und senkte den Blick. Er musste ständig an Alex denken und daran, wie sie gestern im Streit auseinandergegangen waren. Er wusste, dass Alex ihn verachten würde, wenn er erfuhr, dass Ben die Polizei eingeschaltet hatte. Deshalb musste er dafür sorgen, dass er keinen Verdacht schöpfte. Er durfte sich nichts anmerken lassen. Eine falsche Geste oder ein falsches Wort würden Alex hellhörig werden lassen, und er kannte den Blonden gut genug, um zu wissen, dass es dann eskalieren würde.
Wagner öffnete den Wagen und hielt Ben die Beifahrertür auf.
„Das wird schon gut gehen“, versuchte er ihn zu beruhigen. „Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Sehr witzig …“, entgegnete Ben.
Wagner warf ihm einen besorgten Blick zu. Die Falten um seine schmalen Augen ließen ihn nachdenklich wirken.
„Jetzt steigen Sie erst mal ein“, forderte er Ben auf, „und zu Hause ruhen Sie sich aus!“
„Das ist nicht mein zu Hause“, gab Ben zurück.
„Sie wissen, wie ich das meine.“
Ben seufzte und stieg schließlich ein. Er zog die Tür zu und schnallte sich an. Wagner umrundete den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Er steckte den Schlüssel in die Zündung und startete den Motor. Die Strahlen der Schweinwerfer warfen zwei grelle Balken auf die Straße. Wagner wendete den Wagen und fuhr anschließend geradeaus.
„Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass da was faul ist“, sagte er.
Ben sah ihn an. Der Kommissar wirkte auch ohne Uniform wie ein Bulle. Er trug ein glattgebügeltes Hemd über einer schwarzen Anzugshose. An seinen Füßen glänzten polierte Lederschuhe.
„Warum macht er sowas nur?“, fragte Wagner und klang fast wie ein verzweifelter Vater, der über seinen eigenen Sohn sprach.
Ben zuckte mit den Schultern. Sie fuhren nach rechts auf die Elbchaussee.
„Ehrlich gesagt“, erwiderte er, „ich hab‘ überhaupt nichts geahnt.“
„Wie kommt’s?“, fragte Wagner und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Sie sind doch ein Paar.“
„ Waren “, korrigierte ihn Ben. „Wir waren ein Paar.“
Wagner nickte kaum merklich. Er schien die Sache nicht genauer hinterfragen zu wollen. Vermutlich war es ihm unangenehm, sich mit einer Beziehung zwischen zwei Männern auseinander zu setzen. Ben kannte derartige Reaktionen.
Schweigend folgten sie der Elbchaussee. Die vollen Baumkronen ragten über die Straße und wirkten wie ein Tunnel aus Laub. Zwischen den Baumstämmen auf der linken Seite blitzte die Elbe. Das Spiegelbild des Halbmondes flackerte auf ihrer Wasseroberfläche.
„So, da wären wir!“, riss ihn Wagner aus den Gedanken. Er hielt am Straßenrand und spähte in die Außenspiegel. „Verfolgt wurden wir nicht“, sagte er dazu.
Ben wandte sich nach hinten und warf einen Blick durch die getönte Heckscheibe. Auch er konnte nichts Auffälliges sehen. Wagner griff nach seinem Handy und presste es sich gegens Ohr.
„Ja, Wagner hier“, meldete er sich wenige Sekunden später. „Ich brauche zwei Kollegen an der Elbchaussee 394.“ Er stockte kurz und befeuchtete seine Lippen. „Ja … Nein, nicht im Streifenwagen … Ja … Ja, genau“, sprach er ins Telefon. „Danke.“
Er nahm das Handy wieder herunter und legte auf. Ben schaute ihn fragend an.
„Alles klar“, sagte Wagner. „Sie können gern reingehen. Ich warte hier, bis ich abgelöst werde.“
„Alex darf nichts davon mitbekommen“,
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