Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Nachmittagssonne fiel durch das Fenster, und ein langgestrecktes Rechteck beschien ihren Körper, von ihrem schwarzen Haar bis zur Wölbung ihrer Hüfte. Ich wusste, wer sie war, hatte es vermutlich die ganze Zeit gewusst, denn ich liebte sie. »Sita!«, rief ich, doch sie rührte sich nicht.
Der Kater zu meinen Füßen rieb sich an meinem Knöchel. »Tut mir leid, sie kann dich nicht hören, Kumpel. Und auch nicht sehen oder sonst was. Du bist nicht hier.«
Komisch, aber ich hatte eindrucksvollere Spezialeffekte erwartet. Mehr Geisterhaftes, die Fähigkeit, mit der Hand durch Gegenstände hindurchzugreifen, Ketten rasseln oder Wind durch Wände heulen zu lassen. Aber es war so ziemlich das Gleiche wie zuvor, seit die Zeit stehen geblieben war. »Wie ein Geist.«
»Ganz genauso.«
Langsam wandelten wir zur anderen Seite des Betts, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte. Sie lag auf einem bunten Quilt, die nackten Füße hatte sie angezogen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren offen und das Make-up von Tränen verschmiert. Auf einer Hand hatte sie eine komplizierte Hennamalerei, um deren Erklärung ich sie gern gebeten hätte. Ich hockte mich neben sie, berührte ihr Haar, doch ich spürte nichts, und sie spürte nichts, nicht einmal meinen Geist im Raum nahm sie wahr. Sie sah traurig und schön aus, und ich hatte ihr tausend Dinge zu sagen, doch es gab keinerlei Möglichkeit mehr, mit Sita zu sprechen. Die Stille wehte durch mich hindurch. Obwohl es für keinen von uns beiden gut war, blieb ich lange Zeit bei ihr.
»Warum weint sie?«, fragte ich Harpo.
»Wegen des Lochs in deinem Kopf.«
»Weil ich tot bin?«
An der Tür tauchte eine Gestalt auf. Groß, dünn und mit dem nach hinten gebürsteten Haar sah er wie eine Skulptur von Giacometti aus oder ein junger Samuel Beckett. Als er die weinende Sita im Bett sah, senkte er einen Augenblick den Kopf, und als er ihn wieder hob, gab er unmittelbar seine Identität preis. Sam. Mein Bruder Sam. Sowie ich ihn sah, erinnerte ich mich an den alten Mann im Badezimmer und begriff sofort, dass der eine ältere Ausgabe meines Bruders aus einer entfernten Zukunft gewesen war, der durch irgendeinen Riss in der Zeit hereingeschlüpft war. Nun war er so jung wie gestern. Er betrat das Zimmer, ohne mich zu bemerken, hockte sich neben sie und sagte ihren Namen. »Sita.«
Sie lächelte kurz und streckte die Hand aus, die er ergriff und an sein Gesicht drückte. Sie lächelte erneut, hielt seine Hand noch einen Augenblick länger und ließ dann los. »Bleib ein Weilchen«, sagte sie. »Leiste mir Gesellschaft.«
»Alle haben sich gefragt, wohin du verschwunden bist.« Er setzte sich neben sie.
»Ich konnte keine weitere Beileidbekundung mehr ertragen. Noch einer mit guten Absichten, aber wenig Fantasie. Auch er wäre von seinem eigenen Leichenschmaus weggegangen. Ohne sich zu verabschieden. Plötzlich hat er mir so sehr gefehlt, und ich wollte hier oben sein und nachsehen, ob noch immer sein Abdruck im Bett zu erkennen ist. Sein Geruch im Kissen.«
Mein Bruder wusste eindeutig nicht, was er tun oder sagen sollte. Während er die Winkel der Wände vor sich betrachtete, verschränkte er die Finger und kreuzte die Beine an den Knöcheln. Er hatte sich in ihrer Gegenwart immer ein wenig unbehaglich gefühlt. Der Kater sprang auf das Bett und schlenderte zu meinem Kissen, wo er sich wie ein Teller drehte, um sich dann in die Vertiefung zu legen, die Sitas Kopf hinterlassen hatte.
Sam tätschelte ihre Hand. »Du weißt, dass es ein Unfall war. Er war sofort tot. Vielleicht ist er über den Kater gestolpert, hintenüber gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen. Es muss der Kater gewesen sein.«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Harpo von seinem Kissen.
Unten fand eine Feierlichkeit statt. Jemand hatte einen Witz erzählt, und die Pointe löste eine Welle von Gelächter aus, das anschwoll, wieder abebbte und eine noch tiefere Stille hinterließ. Geschichten, die bei Beerdigungen erzählt werden, sind meines Erachtens das sicherste Anzeichen für unsere psychische Belastbarkeit. Dass wir einander zum Lachen bringen wollen und können. Fast wünschte ich mir, unten bei meinen Freunden und Verwandten zu sein, um zu hören, was man über mich sprach, und manches richtigzustellen, aber ich ertrug es nicht, Sita zu verlassen, selbst wenn sie in der guten Obhut meines Bruders war. Was den Kater anging, so könnte ich ihn erwürgen, aber wozu? Man stolperte immerzu
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