Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
sich an und all das.
Also, sie heiraten, ja. Ein junger indischer Arzt und seine blonde Ehefrau. Wohlgemerkt zu einer Zeit, als solche Kombinationen nicht so üblich waren wie heute. Doch sie waren verliebt und kümmerten sich nicht um die Blicke auf der Straße oder um das Geflüster im Lebensmittelladen. Er hatte niemanden in der großen Stadt. Sie hatte Platz in ihrem Herzen für jede mögliche Liebe. Sie hatten einander, und was machte es da schon aus, was die anderen sagten!
Katya, ja, das ist meine Mutter, studierte ausgerechnet Poesie an der Universität von Chicago, und Niren wohnte glücklich in einem Krankenhaus in der Nähe. Eines schönen Tages in der Weihnachtszeit, alles ist dekoriert, es ist kalt, und die Leute hetzen umher mit ihren Einkäufen und Vorbereitungen, sagt sie ganz nebenbei: »Ich bin guter Hoffnung.« – »Guter Hoffnung?«, fragt er. »Auf was hoffst du denn?« Er dachte, sie erwarte vielleicht zu den Feiertagen ein Paket von ihren Verwandten aus Danzig, und sie strahlt natürlich angesichts seiner Ahnungslosigkeit. »Ich erwarte ein Kind, Niren«, sagt sie, und später, als ich schon ein kleine Mädchen war, erzählte er mir, dass er in diesem Augenblick wusste, wie groß das Universum war, denn es hatte sein Herz erfüllt. Ich glaube, die beiden waren in jenen Monaten vor der Geburt ihres ersten Kindes sehr glücklich, wenn noch Vorfreude, Freude und ein wenig Angst herrschen, ehe die unvermeidliche Müdigkeit und die Realität, für ein lebendiges Kind zu sorgen, an ihre Stelle treten. All ihre Gespräche drehten sich um das kommende Ereignis, und wie üblich in solchen Fällen planten sie, trafen Vorbereitungen, fanden eine größere Wohnung und kauften die notwendige Ausstattung. Die Zeit vergeht, und die Frage, wie das Baby heißen solle, kam auf. Katya hatte ihm gesagt, er solle über den Namen des Erstgeborenen entscheiden, und sie wähle dann alle weiteren Namen aus. Eine weise Frau, meine Mutter.
Nun ist mein Vater kein besonders religiöser Mann, jedenfalls nicht in einem förmlichen Sinne, und ich habe keine genaue Vorstellung, woran seine Familie in der alten Heimat glaubt. Ich war nur ein einziges Mal in Indien, als ich gerade einmal sechs Monate alt war. Die Oma verliebte sich so sehr in mich, dass die ganze Familie schon im nächsten Jahr nach Chicago übersiedelte. Außerdem hatte mein Vater inzwischen fast alle Bräuche meiner Mutter angenommen. In der neuen Wohnung gab es einen Weihnachtsbaum. Wir sprachen nie darüber, aber ich bin sicher, dass mein Vater dachte, der Besuch der christliche Kirche und derlei seien ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung zu einem vollwertigen Amerikaner. Oder vielleicht wollte er ihr auch nur einen Gefallen tun. Da er aber, soviel ich weiß, säkular erzogen wurde, war es überraschend, dass er meinen Namen im Ramayana fand. Kennst du diese Geschichte?
Mein Bruder schüttelte den Kopf. In seinem dunklen Anzug mit Krawatte sah Sam auf dem Bett etwas unpassend aus. Als alter Mann im Bademantel war er mir inzwischen vertrauter, und ich wünschte mir, ich könnte mit ihm sprechen und ihn wissen lassen, wie er in der Zukunft sein würde. Der Kater stand mit einem Ausdruck milder Verärgerung im Raum und fand dann seinen Platz auf dem langsam wandernden Sonnenfleck am Boden. Ich war neugierig, was Sita zu sagen hatte, denn sie sprach nur selten über diesen Abschnitt ihres Lebens.
Das Ramayana ist die Lebensgeschichte von Rama, der siebten Inkarnation von Vishnu, und ich denke, man kann es als eine der grundlegenden Geschichten der hinduistischen Tradition bezeichnen. Es ist ein langes, vielschichtiges, episches Gedicht über den verbannten Prinzen Rama und seine Frau. Sie wird von dem Dämonen Ravana entführt, einem Wesen mit zehn Köpfen und zwanzig Armen. Er täuscht sie und bringt sie ins Königreich von Lanka, jenseits des Meeres. Der Affengott Hanuman hilft Rama, das Mädchen zu retten, aber mein Gott, je weiter die Geschichte fortschreitet, desto komplizierter wird sie. Doch der Grund, warum ich dir das erzähle, ist, dass Ramas Frau Sita heißt. Sie ist eine Inkarnation der Göttin Lakshmi und der Inbegriff von Schönheit, Tugend und Treue. Anhängerin der Prinzipien des Dharma. Die ideale Gemahlin. So einem Vorbild muss man erst einmal gerecht werden! Soll das ein passender Name für ein kleines Mädchen sein? Was dachte sich der arme Mann?
Mein Vater erzählte mir, als ich klein war, die Geschichten aus den Ramayanas
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