Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
– denn es gibt viele Fassungen – immer vor dem Schlafengehen. Ich weiß nicht, wie viel davon belegt war und was er vielleicht erfunden haben mochte. Ich glaube nicht, dass er insgeheim versucht hat, aus mir eine gute Hindu zu machen oder auch nur eine Bengalin. Die Gutenachtgeschichten erzählte er ebenso sehr um seinetwillen, wie sie mich einschläfern sollten. Durch das Erzählen dieser Geschichten erinnerte er sich offenbar an seine eigene Kindheit, und ich genoss sie als das, was sie waren – gruselig, lustig und traurig. In einer Geschichte bauen die Affen eine Brücke von Indien nach Sri Lanka, indem sie sich an Hand und Fuß fassen und am Schwanz des nächsten festhalten, und in einer anderen Geschichte zündet Ravana den Schwanz des Affengotts an, der durch das Königreich rast, die Flammen von Haus zu Haus verbreitet und alles zerstört.
Was ihm auch immer die Geschichten bedeutet haben, für uns beide waren sie eine Art Ritual, eine geheime Sprache und ein persönliches Band, auch wenn sie überall in der hinduistischen Welt bekannt sind. In dieser kleinen Ecke von Chicago aber gehörte das Ramayana nur uns. Keines der anderen Kinder hatte je von einem so komplizierten Mythos gehört, und selbstverständlich erwähnte ich die Götter nie vor den Nonnen meiner Schule. Und es gefiel mir, die einzige Sita unter all den Mary Margarets und Sean Michael Patrick Francis Joseph Aloysiuses an der Schule Our Lady of Grace zu sein, die einzige Sita in der Nachbarschaft oder – soviel ich wusste – in ganz Chicago. Allerdings gab es eine Zeit als Teenager, da wäre ich lieber Suzie oder Rita gewesen. Doch als ich von zu Hause auszog, um aufs College zu gehen, hatte ich all das überwunden.
»Ein schöner Name«, erklärte Sam, und Sita wurde rot bei diesem Kompliment. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus auf den schönen Sommertag. Zu schön für eine Beerdigung. Ich war versucht, zu ihr hinüberzugehen, mich hinter sie zu stellen und meine Arme um ihre Taille zu legen, doch da keiner von uns beiden diese Geste hätte spüren können, erschien sie sinnlos. Ihre Augen blickten durch die Fensterscheibe starr geradeaus, sie suchten nicht die äußere Welt, sondern waren auf eine weit entfernte innere Landschaft gerichtet.
Allmählich vergaß ich die Geschichten meines Vaters und wurde stattdessen einfach Sita, ein Mädchen mit einem ungewöhnlichen Namen. Eine unter vielen Fremden, als ich in Philadelphia zur Universität ging. Ein Junge namens Ayodeji aus Nigeria. Michiko aus Kyoto in meinem Kurs ›Englischer Aufsatz‹. Josip, Baxter und ein Mädchen namens Feather aus Las Lunas in New Mexico. Nichts Fremdes an mir, nichts Exotisches. Einfach ein Mädchen, etwas dunkler als manche andere, doch kaum ungewöhnlich. Was steckt in einem Namen? Ich war mehr Amerikanerin als viele dieser fremden Satelliten, die auf dem Campus gelandet waren. Und fern von meinen seltsam gemischten Eltern mit ihrer Melange aus Essen, Gebräuchen, Geschichten und Erinnerungen wurde ich noch viel amerikanischer.
Ich war ernsthaft entschlossen, der Vergangenheit Ade zu sagen und so amerikanisch zu werden wie alle anderen. All meine Freunde waren ganz normale Joes. Ich hing mit meiner blonden, wuschelköpfigen Mitbewohnerin und den üblichen Janes herum. Rückblickend sieht alles wie eine viel bewusstere Entscheidung aus, aber damals hatte ich keine Ahnung davon, wie sehr ich mich danach sehnte, so zu sein wie alle anderen: noch eine Achtzehnjährige, die sich selbst erfindet. Aber es gibt eine lustige Geschichte mit einem schnuckeligen Typen, mit dem ich einige Male ausging. Als wir uns einmal für einen Abend in der Stadt herausputzten, führte er mich schließlich zum Essen in ein indisches Restaurant, Bombay oder so. Wir sitzen dort in dem roten Raum mit silbernen Samowars, an der Wand kämpfen Ganesha und Shiva miteinander, und wir warten auf unser Lamm Rogan Yosh oder was auch immer, und ich muss total mürrisch ausgesehen haben. »Was ist los?«, fragt er. »Magst du kein indisches Essen?« Und aus irgendeinem Grund muss ich losprusten und kann einfach nicht mehr aufhören zu lachen. Der arme Kerl wusste überhaupt nicht, was los war.
Wie so viele andere plagte ich mich einige Jahre ziellos herum, aber in der Abschlussklasse fasste ich den Entschluss, Landschaftsarchitektur zu studieren und aufs College zu gehen. Ich landete auf der Rhode Island School of Design, und dort wurde mein Amerikanisierungsprogramm
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