Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
puppenklein, purzelte durch die Luft, ihre Arme und Beine strampelten, ihr glänzendes rotbraunes Haar wirbelte wild herum, und ihr rotes Kleid wogte, als sie kopfüber kopfunter fiel. Die Frau, die immer größer wurde, je näher sie kam, stieß einen Schrei aus, als sie durch die Oberfläche barst, sodass ein weiterer Splitterregen auf uns niederging, als sie in einem Scherbenhaufen unter dem Fenster landete
Kapitel sechs Die Frau, die sich mit dem Teufel drehte
S ie lag zusammengesackt auf dem Boden und rührte sich nicht. Ihre nackten Füße waren nach hinten verdreht und ihre Arme ausgerenkt. Die Frau, die durch den Spiegel geflogen war, schien unwiderruflich tot. Die rasende Geschwindigkeit ihres Flugs und der Zusammenprall mit der Wand hatten ihr höchstwahrscheinlich das Genick gebrochen. Unter den silbrigen Scherben begraben, gab sie ein ergreifendes Bild ab: eine zerbrochene Kugel unterm Weihnachtsbaum. Zum Glück hatte die Explosion uns andere unverletzt gelassen. Wir schüttelten Glassplitter von unseren Kleidern, und der alte Mann hob den weggeworfenen Besen auf. Ich dachte, er würde ein bisschen fegen, doch stattdessen stupste er aus sicherer Entfernung mit dem Stielende die Tote an.
Sie prustete und röchelte, Sabber blubberte ihr aus dem Mund. Zurückgekehrt ins Leben, legte sie mit starrem Blick die Hände an die Schläfen und ruckte ihren Hals zurecht, dass ihre Wirbel krachten. Ein Seufzer entfuhr ihrer Brust, dann setzte sie sich auf und strich sich das lange rote Haar aus dem Gesicht. Leuchtend grüne Augen tauchten zwischen den wilden roten Locken auf, und auf ihrer Alabasterhaut tüpfelte eine Vielzahl blasser Sommersprossen ihre Wangenknochen und den Nasenrücken. Ihre Erscheinung erinnerte vage an Elizabeth I., ehe die jungfräuliche Königin von den Pocken schwer entstellt wurde. Sie war atemberaubend. Sie zog ihr Kleid glatt und stand auf, eine kleine Frau Ende zwanzig oder Anfang dreißig und nun wieder zusammengefügt, zeigte sie eine majestätische Haltung, stolz, nahezu hochmütig. Ich vermutete, sie klänge wie Bette Davis, doch sie sprach kein Wort und sah mich nur finster an, als hätte ich ihr ein Unrecht angetan. Darum deutete ich aus irgendeiner Gewohnheit heraus eine Verneigung an, und sie, ebenfalls aus Gewohnheit, streckte ihre rechte, mit Ringen geschmückte Hand aus. Sie war weich und weiß, und als ich mich beugte, um diese Hand zu ergreifen und zu küssen, berührten meine Lippen kreidigen Staub. Dieser Puder, der jeden Quadratzentimeter ihrer sichtbaren Haut bedeckte, hinterließ bei Berührung einen Hauch auf der Fensterbank, auf den blauen Wandfliesen und an meinen Fingern. Die Körnchen fühlten sich wie ungleichmäßige Papierfasern an, so wie man sie in alten, brüchigen Büchern oder Dokumenten findet, die, fasst man sie an, zerfallen. Ein leises Rascheln wie beim Umblättern begleitete ihre Bewegungen, als sie zielsicher zur Toilette schwebte. Der alte Mann, der den Besenstiel fest an seine Brust drückte, kauerte in der Ecke, während Dolly und Jane sich in der Geborgenheit der Badewanne aneinanderdrängten.
Mit der Sicherheit eines Panzerknackers hob sie den Deckel des Spülkastens und legte ihn neben der Toilette auf den Boden. Mit den Händen, die sie zu Spateln streckte, griff sie in den Wasserbehälter und holte eine knochentrockene graue, rechteckige Schachtel heraus. Sie war etwa fünfundzwanzig Zentimeter breit, zweiunddreißig Zentimeter lang und zwölf Zentimeter hoch, an den Ecken verstärkt und mit einer Scharnierlasche von ungefähr fünfzehn Zentimeter Länge am Deckel. Auf der Schmalseite klebte ein kleines Etikett, »Der Prozess der Alice Bonham«. Sie stellte die Schachtel auf das Klo, setzte den Deckel wieder auf den Spülkasten und rieb sich die Hände am Rock ihres Kleids. Roter Papierrost, wie von Ledereinbänden, schwebte durch die Luft und fiel zu Boden.
»Sollen wir dich Alice nennen?«, fragte der alte Mann.
»Sie spricht nicht«, sagte Jane.
»Sie kann nicht oder will nicht«, ergänzte Dolly. »Aus ihr bekommst du kein Wort heraus.«
Der alte Mann räusperte sich. »Nun denn, ich nenne dich Alice, denn du scheinst die Hüterin dieses Archivs zu sein.«
Alice nickte quer durch das Bad ihren Kameradinnen zu und streifte mit erlesenem Ernst kurze weiße Handschuhe über, die im Dekolleté ihres Kleids versteckt gewesen waren. Die Schachtel war zum Bersten mit Dokumenten und Papieren vollgestopft. Sie nahm vorne ein braunes
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