Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
hast gesagt, du seiest gestern Abend nach Hause gekommen und habest aus den Fenstern Gesang gehört.«
»Die Fahrräder stapelten sich auf dem Rasen«, sagte der alte Mann, »wie eine Orgie aus Chrom und Gummi. Und das Haus mit singenden Fenstern. Verdi hast du, glaube ich, gesagt.«
Der Anfang der Geschichte erschien mir schon so lange her und die darin erzählten Ereignisse noch viel länger, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich im Augenblick daran zu erinnern, an welcher Stelle ich abgebrochen hatte. »Nicht das Haus, sondern eine Person im Haus sang, was durch die Fenster zu hören war. Und es war nicht Verdi, sondern, soweit ich mich erinnere, die Lach-Arie aus der Fledermaus .«
»Bist du dir absolut sicher, dass es Strauß war?«, fragte Dolly.
Der alte Mann überging einfach meine Unsicherheit. Über meine Schulter hinweg starrte er in den Spiegel und kratzte an einem Fleck auf seiner Stirn, als wollte er ein Mal auf seiner Haut, das er im Spiegelbild sah, entfernen. Ich, ihm gegenüber, entdeckte nichts außer einer tief gefurchten Stirn ganz ohne jeden Schmutz oder Makel.
»Ein Klavier hat gespielt«, sagte ich. »Und eine Frau sang diese ganz besondere Arie – ›Mein Herr Marquis‹ – mit dem lachenden Chor, und sie sang die Koloraturen mit solch herrlicher Klangfarbe, dass es, ja, ansteckend wirkte und ich, als ich zur Tür kam, plötzlich selber lachte, obwohl es rätselhaft und beunruhigend war, jemanden im Haus zu wissen. Ich folgte der Musik, ging die Treppe hinauf und ins Zimmer meines Bruders. Ins Zimmer meines ehemaligen Bruders …«
Jane kam zur Hilfe. »In das ehemalige Zimmer deines Bruders?«
»Ja, genau. Ich öffnete die Tür und war sprachlos, als ich sah, dass dort eine Aufführung stattfand. Eine Frau, die Sopranistin, stand mit unter der Brust gefalteten Händen singend neben dem Klavier, das eine andere Frau spielte, mit dem Rücken zu mir und dem Publikum, das aus weiteren Frauen bestand, die auf zwei im Halbkreis aufgestellten Stuhlreihen saßen. Nur wenige Sekunden vergingen zwischen meinem Eintreten und dem Moment, bis alle mich bemerkten und innehielten. Vor Überraschung erstarrt, stand ich im Türrahmen. Mir schien, als würden sie mir zuliebe eine Aufführung machen. Höchste Bühnenkunst, extravagante Kostüme und die frappierende Schönheit aller Frauen auf der Bühne.«
»Zu liebenswürdig, Sir«, sagte Jane.
Dolly stieß ihr in die Seite und flüsterte ihr etwas zu. »Er war doch immer schon ein Schmeichler. Ein Süßholz raspelnder Heuchler.«
Wegen des eingebildeten Flecks auf seiner Stirn rubbelte der alte Mann mit dem Handballen hektisch seine Haut. »Entschuldigt die Unterbrechung, aber ist da etwas in deinem Spiegel?« Er legte mir die Hand auf die Schulter und drehte mich um, damit ich unser Spiegelbild betrachte. Zwischen unseren Abbildern im Glas schwoll ein kleiner brauner Fleck, etwa in der Größe einer Halb-Dollar-Münze, auf die Größe einer Kaffeetasse an. Ich berührte den Spiegel, um festzustellen, ob der Klecks sich vielleicht zwischen den Glasschichten ausbreitete, aber der Gegenstand war irgendwo hinter der Oberfläche, und sein Durchmesser wuchs unentwegt.
»Was ist das?«, fragte ich. »Es scheint immer größer zu werden.«
Er packte mich am Ärmel und zerrte mich zur Tür. »Darf ich vorschlagen, dass wir uns in diesem Fall schleunigst aus dem Staub machen.«
Mit einem Schlag zerbarst der Spiegel, es regnete Scherben und Splitter, als ein Stock in den Raum hineinstieß. Ein dicker hölzerner Stecken, tödlich wie eine Rakete, ragte aus dem Medizinschrank. Da, wo bis dahin der Spiegel hing, steckte nun das hintere Ende mit einem breiten, borstigen Schaft.
»Sieht aus wie ein alter Besen«, sagte ich und griff mit beiden Händen zu, um an ihm zu ziehen.
»Das würde ich an deiner Stelle lassen«, sagte der alte Mann.
Doch meine Neugierde war stärker. Und mit einem Ruck zerrte ich hervor, was sich als ein alter, handgemachter Besen herausstellte; seine rauen Borsten waren aus Binsen, und der Stiel war knorrig und verwittert mit zwei fettigen schwarzen Verfärbungen an seinem pockennarbigen oberen Ende.
Dolly, die die Arme um sich geschlungen hatte, sagte: »Na, jetzt hat er es geschafft.«
Jane deutete nur nach hinten zum Spiegel. Wo das Loch gewesen war, schimmerte nun dunkel eine neue Glasschicht. Ein wilder menschlicher Schrei gellte aus der Ferne, von irgendwo weit weg, aber doch aus dem Inneren des Spiegels. Eine Gestalt,
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