Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
erhielt Deine zarten Zeilen schon vor langer Zeit, seit ich daniederliege. Verschiedenes hielt mich davon ab, Dir früher zu antworten, was Du mir, wie ich hoffe, nicht verübelst. Lange Zeit war ich sehr schwach, und es hat dem Herrn gefallen, mein Kindlein zu sich zu nehmen, als es gerade mal zwei Wochen alt war. Schon bei der Geburt war es dem Tode nahe und ist nicht zu Kräften gekommen. Dann kam eine schmerzliche Melancholie über mich, zusammen mit schwarzen Tränen und viel Traurigkeit, wenngleich es dem Herrn gefiel, mich wieder aufzunehmen, und wenngleich ich noch nicht wieder ganz bei Kräften bin.
Mr. Bonham hat den Verlust unseres Kindes nicht so gut verkraftet wie ich, und er ist ein alter Mann, der Stunde seiner eigenen Heimkehr zum Herrn recht nah, so ließe es sich erklären. Meine Nachbarn, der Pastor Mr. Parris und seine Gemahlin, die nebenan leben, waren ganz besonders hochherzig, denn sie schickten ihr eigenes Dienstmädchen, eine Indianerin namens Tituba, zu mir, damit sie meinen Haushalt während meiner Bettlägerigkeit besorge. Niemals zuvor befand ich mich in solcher Nähe zu so einer Frau, und sie sprach mit der Melodie der Spanischen Inseln, von wo sie mit ihrem Gemahl, John Indian, hergebracht wurde. Sie erheitern sich und bezwingen alle Obsorge mit ihren Phantasien und Liedern und Geschichten, obgleich ich den Verdacht habe, dass sie nicht wahre Christen sind, sondern Heiden unter allen anderen. Vielleicht hat Gott einen besonderen Ort für die Unschuldigen und Unwissenden, obgleich ich nicht mit Gewissheit sagen kann, wo dieser ist oder wie man ihn sich vorstellen muss. Das Dienstmädchen der Parris ist ein Geschenk des Himmels für mich, nicht nur aufgrund der Pflege und Verköstigung von Mr. Bonham, sondern wegen der beiden Kinder, die sie häufig mitbringt, Betty Parris, die die Tochter und ganze acht Jahre alt ist, und deren Verwandte Abigail, die beinahe zehn ist, denn sie erfüllen das leere Haus mit ihren kindlichen Spielen und ihrem Lachen, eine Freude, die über den Verlust meines eignen Töchterleins, das ich nach Dir benannt hatte, hinwegtröstet. Schreibe mir und erzähle mir von Deinem Sohn, und ich werde mir Dein Beispiel zu Herzen nehmen und auf den Herrn vertrauen, dass er mich eines Tages wieder segnen wird mit dem, an dem Du gerade deine Freude hast. Ich bete für Dich und Deine Familie.
Deine Dich liebende Schwester
Alice
Als Jane fertiggelesen hatte, griff sie nach Dollys Hand, und zusammen stiegen die beiden über den Wannenrand und schlangen ihre Arme um Alice. Mitten im Bad schmiegten sie sich aneinander und beweinten gemeinsam den traurigen Verlust des Bonham-Kindes. Diese Geste der Solidarität rührte mich. Drei Schwestern im Geiste, die mich und den alten Mann aus ihrer Umarmung ausschlossen. Wir waren Eindringlinge, zwei Voyeure, und konnten nur danebenstehen, Hände in den Taschen, bis der Moment vorüber war. Die Frauen genossen so etwas wie eine natürliche Verbundenheit und Glückseligkeit, um ihre Gefühle zu besänftigen, etwas, das Männer nur selten zeigen, da wir vor der Zurschaustellung unserer inneren Gefühle zurückschrecken und unseren Schmerz auf unserer eignen geheimen Insel aushalten müssen. Ich empfand Mitgefühl wegen des ihr so früh genommenen Kindes, konnte mich aber nicht dazu durchringen, ihr irgendetwas zu sagen, und als ich den alten Mann ansah, um ein Zeichen der Anteilnahme an ihm zu entdecken, hob er kaum merklich die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern, als wäre auch dies ihm unverständlich.
Wie ein Footballteam lösten sie sich voneinander, und ich fragte mich sogleich, zu welchem Spiel wohl aufgerufen würde. Alice entnahm der Schachtel ein kleines, handgebundenes Buch, das mit roten Lesezeichen versehen war. Dadurch dass sie es dem alten Mann reichte, gab sie zu erkennen, dass auch er beim Erzählen ihrer Geschichte eine Rolle hatte. Er schlug das Buch auf und las die Worte, die auf dem Titelblatt geschrieben standen: »Das Tagebuch des Nathan Bonham, das ein Bericht ist über die Probleme und den Prozess seiner Gemahlin«. Nachdem er die ersten wenigen Seiten überflogen hatte, blätterte er zu der ersten markierten Passage.
13. Nov. 1691
Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob ich der lieben Alice ein Leid angetan habe, denn sie ist in diesen langen Monaten nach dem Verlust noch immer in Trauer, obwohl wir Gottes Willen kennen und auf sein Urteil und seine Gnade vertrauen. Ich habe sie nicht zu einem weiteren
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