Sommernachtsschrei
längere Beine und waren perfekt geschminkt. Wenn ich in den Schulstunden saß und die Mädchen im Klassenzimmer verstohlen musterte, kam ich mir plump, hässlich und unreif vor. So miserabel hatte ich mich noch nie vorher gefühlt.
In meiner alten Schule war ich einfach der Durchschnitt gewesen. Kaum eine meiner Freundinnen kam geschminkt in den Unterricht oder trug irgendwelche teuren Klamotten. Wenn jemand mit dem Auto zur Schule gebracht wurde, dann mit normalen Kombis oder Kleinwagen. Aber hier in Kinding fuhren irgendwelche fetten Mercedes oder Geländewagen vor, immer blitzeblank poliert, nicht selten waren eine Tasche mit Golfschlägern und ein Labrador im Kofferraum.
Ich kam mit dem Fahrrad. Einem Mountainbike wenigstens, auch wenn es nicht mehr das neuste war. In meinem Alter hatten viele hier Motorroller oder ein Motorrad. Hätte ich auch gern gehabt. Aber meine Eltern fanden, dass Steuer und Versicherung viel zu teuer wären. Ich überlegte sogar, mir einen Job zu suchen, um mir einen Motorroller kaufen zu können. In den Sommerferien – wenn die anderen nach Sardinien oder Florida oder in die Schweiz fuhren…
Er hieß Maurice, wie ich am darauffolgenden Morgen erfuhr, als ich mein Rad vor dem Schulhof abschloss. Er war aus einem schwarzen Mercedes-Allrad-Geschoss ausgestiegen und kam zu Fuß den Gehweg zum Schultor entlanggeschlendert, die Lacoste-Umhängetasche baumelte lässig über seiner rechten Schulter. »He, Maurice!«, riefen zwei Jungs, die gerade ihre Motorroller abstellten.
Ich nestelte an meinem Schloss herum, um dann »zufällig« aufzublicken, wenn er nah genug bei seinen Freunden angekommen wäre. Nicht rot werden!, befahl ich mir, zählte stumm bis fünf und hob schließlich den Kopf. Doch da hatte er sich schon umgedreht und ging mit seinen Freunden über den Hof zum Schulgebäude.
Ich ärgerte mich unheimlich über mich selbst. Warum hatte ich hier nur solche Hemmungen? An meiner alten Schule, in meinem alten Leben hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich es wert war, einen Jungen anzuschauen. Aber hier war alles um mich herum glänzender, größer, schöner, wichtiger, erfolgreicher… und ließ mich dafür umso kleiner, hässlicher und losermäßig erscheinen.
Niedergeschlagen stapfte ich ins Schulgebäude.
Warum haben meine Eltern ausgerechnet hierherziehen müssen?, dachte ich wütend.
3
»Ist da frei?«, schreckt mich eine Stimme auf.
»Ja«, sage ich, ohne aufzusehen, hoffe, dass er sich weder neben mich noch direkt gegenüber ans Fenster setzt. Er nimmt den Gangplatz schräg gegenüber von mir.
»Schriftstellerin, was?« Er deutet auf mein Schreibheft.
Ich sehe ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen.
»Sorry, tut mir leid!« Er ist sofort ernst geworden und macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Ich wollte nicht…«
Ich wende mich von ihm ab und er spricht nicht weiter.
In meinem früheren Leben, ich meine, bevor das alles passiert ist, wollte ich immer nett und freundlich zu allen sein, wollte dazugehören. Was hätte ich darum gegeben, so zu sein wie meine Freundinnen! Jetzt ist es mir egal, was andere über mich denken.
Wenn du versuchst, so zu sein, wie die anderen dich haben wollen, gibst du ihnen bloß Macht über dich. Das war einer der wenigen Sätze, die Katie immer gesagt hatte.
Katie lachte nie. Ihr Haar war büschelweise ausrasiert und sie hinkte. Dabei fehlte ihr nichts, behauptete die Ärztin.
Mit dem Hinken und der räudigen Frisur hat sie ihre Grenze verteidigt, die sie um sich gezogen hat, glaube ich. Das hielt alle fern.
Der Regen hat aufgehört. Draußen hinter den Scheiben zeigen sich jetzt ausgedehnte gelbe Getreidefelder und Autos rollen wie Spielzeug auf der Straße, die den Schienen folgt. Ich nehme alles in mir auf, sauge es ein in diese weite, hungrige Leere.
»Entschuldigung, ich wollte wirklich nichts Falsches sagen«, kommt es wieder von dem Jungen, der mir schräg gegenübersitzt.
Ich habe ihn ganz vergessen und betrachte ihn nun genauer, während er mich genauso unverhohlen mustert wie ich ihn. Sein blondes Haar reicht ihm fast bis auf die Schultern und fällt ein Stück über seine Augen. Seine Haut ist sonnengebräunt, sein Poloshirt verwaschen, am Handgelenk trägt er ein Lederband und mehrere bunte Bänder und am Mittelfinger einen breiten silbernen Ring. Die Finger ruhen auf den Tasten seines Notebooks. Plötzlich treffen sich unsere Augen und mein Herz beginnt einen Moment lang schneller zu klopfen. Schnell
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