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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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liegt nur wenige Kilometer von Prien entfernt. Es ist klein und überschaubar. Jeder kennt jeden oder fast jeden – Geheimnisse lassen sich hier nicht bewahren. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen . Meine Hand tastet nach dem Papierknäuel in meinem Pulli. Ich bin sicher, dass es schon viele wissen. Dass ich zurückgekommen bin.

5
    Es ist seltsam, durch den Ort zu fahren. Da ist die Bäckerei Huber mit dem wagenradgroßen Holzofenbrot und den Zwetschgenfiguren im Schaufenster, daneben die Änderungsschneiderei Maria Paspalis mit dem weißen Spitzenvorhang, am Platz vor der restaurierten katholischen Kirche das Wirtshaus Zur neuen Post im Fachwerkhaus mit den üblichen üppigen Geranien an den Fenstern, schräg gegenüber das Modehaus Radler, in dem es seit Jahrzehnten dieselben langweiligen Oma-Sachen gibt, in der Seitenstraße ist der Elektrobetrieb, der mir mal mein Handy repariert hat…
    Obwohl ich alles wiedererkenne, bleibt es mir dennoch seltsam fremd. Als hätte ich irgendwann einmal einen Film gesehen und würde jetzt den Drehort besichtigen.
    Leonie erzählt. Dass sie vor zwei Wochen David abserviert hat, dass Ron und Ike immer noch ziemlich scharf auf sie wären, sie die beiden aber nach wie vor ziemlich blöd und langweilig findet, vor allem sind sie schlechte Segler. Sie haben es doch tatsächlich geschafft zu kentern! Überhaupt sind alle Jungs am Augustinus unterentwickelt. Ach ja, Vivian geht wieder mit Hendrik aus der Parallelklasse, dem Mathe-Ass und Coolsten der Klasse, Maya kann sich wieder mal nicht entscheiden. Diesmal nicht zwischen Til und Zacharias. Til spielt Violine und Zacharias Klavier, der eine ist blond, der andere rothaarig. Unser Coffee Shop bietet nun auch Chai an und endlich gibt es eine neue Bar, in der sie Wasserpfeifen haben. Dorthin kommen sogar Jungs aus München. XS-Bar heißt sie, die ist ja so viel cooler als das Kuba, da geht jetzt sowieso keiner mehr hin.
    Unglaublich, wofür man sich so interessiert, wenn man einen normalen Alltag hat. Ob ich vor einem Jahr auch so war? Es fühlt sich so an, als wäre es Ewigkeiten her, dass es mir wichtig war, wo es zwei Cocktails zum Preis von einem gibt. Ich lasse Leonie weiterreden. Ihre Stimme beruhigt mich, die Belanglosigkeit ihrer Neuigkeiten auch.
    »Was?« Ein Name hat mich aufhorchen lassen. »Hast du eben von Claude gesprochen?«
    Sie räuspert sich. »Ich wollte nicht… ich hab in dem Moment gar nicht daran ge…«
    »Sag schon, was ist mit Claude?« Claude – auch für Fremde unverkennbar der ältere Bruder von Maurice, Anfang zwanzig, in seiner Freizeit Freeclimber – könnte mich bestimmt mit zwei Fingern mühelos erwürgen. Er hat mich nie gemocht. Und ich fürchtete mich immer ein bisschen vor seiner Launenhaftigkeit. Seltsam, wie unterschiedlich Brüder sein können, selbst wenn sie sich äußerlich noch so sehr ähneln.
    Leonie holt Luft und sieht kurz zu mir herüber. »Ich wollte dich nicht gleich wieder mit der alten Geschichte…«
    »Jetzt sag schon!«, schreie ich sie an.
    Diese Ausbrüche sind neu. Sie kamen im Gefängnis. Nach Tagen des Schweigens brüllte ich plötzlich los. Dann merkte ich, dass diese Wut auch schon vorher in mir gewesen war, dass ich es nur irgendwie geschafft hatte, sie unter Verschluss zu halten. Mein Großvater soll jähzornig gewesen sein, hat meine Mutter mir anvertraut, nachdem die Gefängnispsychologin mit ihr über meine Wutanfälle gesprochen hatte. Als ob eine genetische Veranlagung mich zur Täterin gemacht hätte. Als ob meine Tat dadurch weniger schlimm wäre.
    Die Ampel vor uns schaltet auf Rot. Der vordere Wagen bremst, aber Leonie fährt weiter.
    »Leonie!«
    Sie würgt den Motor ab. Immerhin stehen wir jetzt.
    »Puh!« Leonie streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sieht zu mir herüber. Auf ihrer Stirn bilden sich Falten. »Okay«, sagt sie widerstrebend, »ich hab vor zwei Wochen Claude getroffen, zufällig. Er wollte wohl zu seinen Eltern oder so. Und da hat er gefragt, ob ich noch Kontakt zu dir habe. ›Ja‹, hab ich gesagt, ›hin und wieder.‹ – ›Dann sag ihr schöne Grüße und dass ich sie fertigmache, wenn ich ihr begegne.‹«
    Und das erzählst du mir erst jetzt?, wollte ich sagen, doch ich bringe kein Wort heraus. Mir ist übel. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen!
    Der Brief. Abgestempelt in München – Claude studiert in München BWL…
    Claude.
    Dessen jüngeren Bruder ich umgebracht habe.
    Leonie sieht zu

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