Sommernachtsschrei
sich unsere Schultern berühren. »Was soll dieser Aufstand hier eigentlich? Kriegst du überhaupt irgendwas mit? Sie haben Franziska aus Mangel an Beweisen freigelassen, schon vergessen?«
Leonies Worte sind sicher nett gemeint, aber ich zucke dennoch zusammen. Das klingt, als wäre ich doch schuldig, nur könnte es mir noch niemand nachweisen. Ist ja auch so – aber hätte Leonie es nicht anders formulieren können?
Sophies Augen werden schmal, als wären sie mit dem Messer in die Haut geschlitzt. »Noch schlimmer. Eine Mörderin, die davongekommen ist!«
»Halt die Klappe!« Mit einem blitzschnellen Griff habe ich sie am Kragen ihres dämlichen Polos gekrallt und hochgezogen, sodass wir uns über der Theke direkt in die Augen sehen.
»Ziska!«, schreit Leonie und hält meinen Arm fest, aber nichts und niemand kann mich gerade bremsen. Meine Kraft ist eine explodierende Bündelung all der Demütigungen in der Untersuchungshaft. Doch ich beherrsche mich und bringe mein Gesicht so nah an Sophies, dass sich unsere Nasen fast berühren. Ihre Augen weiten sich, es macht ihr Angst, mir so nah zu sein, als sei ich ein Vampir, der sie gleich aussaugen wird. Dann sage ich leise und so ruhig ich kann: »Malaga und Pistazie. In der Waffel, kapiert?«
Sie starrt mich hasserfüllt an.
Ich lasse sie los, und ohne mich noch einmal anzusehen, greift sie zu einer großen Waffel, setzt erst eine Malagakugel, dann eine Pistazienkugel hinein und steckt die Waffel in die Leiste mit den Löchern.
Wortlos lege ich die Münzen daneben, nehme mein Eis und sage zu Leonie: »Ich warte draußen.«
Vor dem Eiscafé auf der Straße fängt mein Körper an zu zittern. Als würde ich unter Strom stehen. Ich muss an Katie denken. Einmal hat eine Zimmergenossin sie dumm angemacht, hat sie Hinkebein und Krüppel genannt. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Katie sich auf sie gestürzt, hat sie mit einer Hand an der Gurgel gegen die Zellenwand gedrückt und gesagt: »Du nennst mich nie wieder so, kapiert?«
Ich muss schlucken. Das Eis schmeckt auf einmal so süß, dass ich das Gefühl habe, es würde meine Speiseröhre verkleben. Panisch schnappe ich nach Luft. Ist das aus mir geworden? Bin ich wie Katie…
Ich schrecke zusammen, als ich plötzlich Leonies Stimme neben mir höre.
»Puh! War das wirklich notwendig?« Sie beißt ein Stück ihrer Eiskugel ab und verzieht das Gesicht, als würde sie erst in diesem Moment daran denken, dass das Eis ziemlich kalt war.
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte nur genickt und wäre ohne Eis abgezogen?«
»Nein, aber…«
»Aber was?« Wieder ist da dieser Tonfall in meiner Stimme.
Sie zuckt zurück. »Mann, du warst ja früher auch kein Lämmchen, aber du bist ganz schön aggressiv geworden! War das der Knast?«
»Was wärst du wohl geworden, dadrin?«, fahre ich sie an. »Es waren nur zwei Wochen, aber du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie das ist, eingesperrt zu sein! Sich nicht duschen und die Haare waschen zu können, wann du willst! Keine Musik hören, kein Fernsehen, nicht telefonieren zu dürfen! Stattdessen sitzt du mit irgendwelchen Verbrecherinnen…«
»Jetzt mal easy, Ziska, okay?«
Sie hält mein Handgelenk fest und ich merke, dass ich noch immer zittere. Aus Wut, Scham… und Verzweiflung.
Langsam lässt sie mich los. »Geht’s wieder?«, fragt sie mitfühlend.
Ich nicke.
Sie lächelt und deutet auf mein Eis. »Es schmilzt, wenn man es nicht isst.«
Dafür habe ich Leonie schon immer gemocht. Sie kann total wütend sein und im nächsten Moment wieder lachen.
»Der kleinste Fleck im Auto macht meine Mutter hysterisch«, erklärt sie und so lehnen wir uns an die Motorhaube und genießen unser Eis unter einem freien blauen Himmel, über den der Wind weiße, bauschige Wolken wie Sahnehauben weht. Noch nie hat mir ein Eis so gut geschmeckt.
Ich lasse es nicht mehr zu, dass man mich demütigt. Auch wenn ich etwas Schreckliches getan habe.
Mein Handy klingelt. Meine Mutter, sehe ich. Ich habe ganz vergessen, sie anzurufen, obwohl ich es ihr versprochen hatte.
»Bist du gut angekommen, mein Schatz?«
»Ja. Alles okay. Ich esse gerade mit Leonie Eis.«
»Das ist schön. Franziska, versprich mir, dass du sofort anrufst, wenn irgendetwas ist, ja? Wir kommen und holen dich.«
»Ich kann schon allein mit dem Zug fahren«, sage ich, dabei weiß ich, dass sie es gut meinen.
»Pass auf dich auf. Und melde dich noch mal heute, ja?«
»Ja, klar.« Ich lasse das Handy in meine
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