Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
Vom Netzwerk:
Jackentasche gleiten. »Meine Mutter«, erkläre ich. »Meine Eltern machen sich schreckliche Sorgen. Sie wollten nicht, dass ich fahre.«
    Leonie zuckt die Schultern. »Manche Eltern sind so.«
    »Ja!« Ich lächle sogar ein bisschen, obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machen würden, und bin trotzdem gefahren.
    »Sag mal«, sagt Leonie auf einmal und leckt den Rest Eis aus der Waffel, »du kannst dich wirklich nicht daran erinnern, wie es passiert ist?«
    »Nein. Mir fehlen fünf oder zehn Minuten in meinem Leben. Die sind einfach weg.«
    »Muss gruselig sein.«
    »Ja. Ist es«, stimme ich ihr zu und stecke die Waffel in den Mund.
    Leonie wirft ihre neben den Bordstein. »Komm, fahren wir.«
    Ein paar Minuten später steuert Leonie den Mercedes über den sanft geschwungenen Weg aus gleißend weißem Kies direkt in den Carport.

6
    Das Haus von Leonies Eltern besteht aus mehreren ineinander verschachtelten Würfeln aus Glas. Ihr Vater hat es entworfen, klar, er ist ja Architekt. Bambus und exotische Bäume – aus Asien, hat Leonie erklärt – wachsen in einem japanischen Garten mit Holzbrücke und Teich, auf dem rosa blühende Seerosen treiben. Letztes Jahr hat ihr Vater diese japanischen Koikarpfen reingesetzt. Sie sollen tatsächlich fünfunddreißig Jahre alt werden. »Stell dir das mal vor, Ziska«, hatte Leonie gesagt, »gibt es was Ekligeres als greisenhafte Goldfische?« Und dann leise hinzugefügt: »Die sollen total viel kacken!«
    »Wie geht’s euren Koikarpfen?«, frage ich beim Aussteigen.
    »Oh, die sind im Winter eingegangen.« Sie rollt die Augen. »Nadia hat ein paar Chlortabletten reingeschmissen, die wir sonst für unseren Swimmingpool nehmen.«
    »Sie hat sie vergiftet?« Wie kann man Fische einfach vergiften? Sie sind doch absolut wehrlos!
    »Komm, Ziska, diese Biester waren einfach nur widerlich. Schau, jetzt haben wir kleine, einheimische Goldfische – die nur ganz, ganz wenig Schmutz machen!« Sie lächelt fröhlich.
    Ich gehe ein paar Schritte auf den Teich zu und werfe einen Blick hinein. Da schnappt ein kleines Maul gerade nach Luft. Wieso rege ich mich eigentlich so auf? Ich habe keine Fische vergiftet, sondern einen Menschen erschlagen.
    »So.« Leonie wirft die Autotür zu. »Oh, Mist!« Sie starrt auf den Autoschlüssel. »Ich hab die Hausschlüssel schon wieder vergessen!«
    »Und jetzt?«, frage ich.
    »Entweder steigen wir durchs Kellerfenster ein«, sie zwinkert mir zu und ich erinnere mich, dass sie auch letztes Jahr schon immer ein Kellerfenster offen gelassen hat, wenn sie allein war und ausging. »Oder Nadia macht uns auf.«
    Nadia ist Leonies jüngere, ziemlich durchgeknallte Schwester. Mit zwölf oder so hat sie ihren ersten Selbstmordversuch unternommen, mit den Schlaftabletten ihrer Mutter. Letztes Jahr hat sie es noch mal versucht, hat Leonie mir in einem ihrer Briefe geschrieben.
    Leonie klingelt und die Tür wird automatisch geöffnet. Offenbar hat Nadia keine Lust, uns persönlich zu begrüßen.
    Im weiten Vorraum mit den großformatigen abstrakten Bildern strömt mir ein Duft aus Vanille und Zitrone entgegen und ich bekomme schon wieder Lust auf Eis, obwohl ich gerade erst eins gegessen habe. Das Haus von Leonies Eltern hat mich schon immer beeindruckt, weil alles so hell und perfekt und außergewöhnlich ist. Dass man sich umbringen will, wenn man in einem solchen Haus lebt, konnte ich nie begreifen.
    Ich folge Leonie über den Marmorboden die Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Tür zum Gästezimmer steht auf, Leonie lässt mir den Vortritt. Ich bleibe erschrocken stehen. Auf dem Bett mit der roten Tagesdecke hockt mit gekreuzten Beinen: Nadia. Ganz in Schwarz.
    Nicht ihre Anwesenheit erschreckt mich so, sondern ihr Anblick. So blass und dünn hatte ich sie nicht in Erinnerung gehabt.
    »Hi!«, sage ich und lasse die Tasche vor den Einbauschrank fallen.
    Sie legt den Kopf schief und sieht mich mit diesem sezierenden und doch zugleich teilnahmslosen Blick an. »Die Franziska!«, sagt sie und grinst säuerlich. »Dass du dich noch hierhertraust!«
    »Raus hier!«, herrscht Leonie sie an. »Verschwinde in dein Zimmer!«
    Ohne das Zucken eines Gesichtsmuskels rutscht Nadia vom Bett, schiebt sich an mir und Leonie vorbei und ist im nächsten Moment verschwunden. Wie ein Phantom, das sich einfach in Luft auflöst.
    Leonie seufzt. »Sorry. Sie ist gerade mal wieder unausstehlich.«
    Mich wundert es, dass ihre Eltern Nadia so

Weitere Kostenlose Bücher