Sommerprickeln
Mason Bayless. Ich glaube, ich habe dich noch nicht hier in der Firma gesehen. Bist du neu?«
»Ich weiß«, sagte Annajane. »Ich meine, ich weiß, dass du Mason bist.« Wie dämlich sie sich anstellte! Jetzt glaubte er bestimmt, sie wäre eine Stalkerin. Annajane errötete und setzte erneut an. »Also, ich meine, wir haben uns schon kennengelernt, aber das ist lange her. Ich bin Pokeys Freundin Annajane Hudgens.« Sie lächelte nervös und schielte hinunter auf den großen roten Fleck, der vorne auf ihrem neuen Kleid prangte.
»Pokeys Freundin«, sagte er. »Die jeden August verschwindet? Ja, genau! Du arbeitest also hier?«
»Nur in den Sommerferien«, erklärte Annajane. »Dein Vater hat uns die Jobs gegeben. Heute ist mein erster Tag.«
»Und wo ist meine Schwester?«, fragte Mason. »Hat sie dich schon jetzt im Stich gelassen?«
»Hm«, machte Annajane, um ihre beste Freundin nicht in die Pfanne zu hauen.
Mason verdrehte die Augen. »Das habe ich mir gedacht. Sie ist nicht mal aufgetaucht, oder?«
»Vielleicht hat sie heute Vormittag noch diesen Ferienkurs«, log Annajane. »Sie will ihre Spanischnote auf eine Zwei verbessern.«
»Jaja«, sagte Mason. »Was wettest du darauf, dass sie mit ihrem faulen Hintern am Pool liegt, während du hier in der Firma arbeitest.«
»Vielleicht dauert der Ferienkurs heute länger.« Annajane versuchte weiterhin, loyal zu sein.
»Falls du Pokey sehen solltest, richte ihr aus, dass ich hier war«, sagte Mason. »Ich gehe bei Voncile vorbei und sag ihr, dass ich hier drinnen ein Chaos veranstaltet habe.«
»Danke«, stieß Annajane hervor.
»Und keine Sorge«, fügte Mason hinzu. »Ich werde Pokeys Ausrede nicht platzen lassen, zumindest nicht heute.«
4
Annajane hatte Mason nie erzählt, dass sie sich damals, an ihrem ersten Arbeitstag, in ihn verliebt hatte. Sie hatte es niemandem erzählt. Nicht mal Pokey. Schließlich war sie erst fünfzehn gewesen, er war neunzehn und arbeitete auf Beharren seines Vaters zum ersten Mal im Warenlager, in jenem Sommer nach seinem ersten Collegejahr. Soweit es Mason Bayless anging, war Annajane nur ein dummes Mädchen, das mit seiner kleinen Schwester spielte.
Er hatte keinen zweiten Gedanken, keinen zweiten Blick an sie verschwendet. Es sollte noch einmal drei Jahre dauern, bis sie sich zum ersten Mal küssten.
Beim Gedanken an jenes erste Mal brannten Annajanes Wangen. Heftig schüttelte sie den Kopf und versuchte, die Erinnerung zu vertreiben.
»Alles klar?«, flüsterte Pokey. »Es ist noch nicht zu spät, um abzuhauen.«
Aber es war zu spät. Die Musik wurde lauter, Geigen und Orgel spielten Pachelbels Kanon in D-Dur. Alle Köpfe drehten sich zum Eingang.
»Aah!« Ein Chor anerkennender Seufzer. Kurz darauf entdeckte Annajane Sophie.
Auf Zehenspitzen ging die Fünfjährige langsam den Gang entlang. Man hatte versucht, ihre wilde Mähne aus blonden Locken zu bändigen, aber das Kränzchen aus Schleierkraut und rosa Rosen saß etwas schief auf ihrem Kopf. Sophie sah aus wie ein Engel in ihrem knöchellangen rosa Organzakleid mit den zarten Biesen am Mieder und den glockenförmigen Ärmeln. Annajane hielt die Luft an, als Masons Tochter den Gang hinaufging und aus einem Satinkörbchen an ihrem schmalen Ärmchen Hände voller Rosenblüten auf den Boden warf. Ihre glitzernde rosa Brille rutschte ihr die Nase hinunter, und sie blieb stehen, um sie wieder hochzuschieben.
Der Anblick von Sophie rührte Annajane unerwartet zu Tränen. Sie war nicht ihr Kind, doch sie hätte nichts dagegen gehabt. Mason hatte sie bei einem One-Night-Stand kurz nach der Trennung gezeugt und die Kleine schließlich adoptiert, nachdem die Mutter das Baby noch in Windeln auf seiner Türschwelle abgelegt hatte.
Die Menschen in Passcoe hatten damit gerechnet, dass Annajane die Geburt des Kindes als Affront empfinden würde, so kurz nach der Trennung von Mason, doch sie hatte ihr Herz an Sophie verloren, als sie die Kleine das erste Mal in den Armen hielt. Wie konnte man der bezaubernden Sophie irgendetwas übelnehmen? Das Haus ihrer Tante Pokey war Sophies zweite Heimat, und da Pokeys beste Freundin Annajane immer noch fast genauso oft da war wie in ihrer Kindheit, betrachtete Sophie sie als Verwandte. Was sie ja auch war. Irgendwie. Sophie zu verlassen, sie an Celia zu verlieren – diese Aussicht war für Annajane der schwerste Schritt von allen.
Wie immer schien sich Sophie nach ihrer eigenen inneren Melodie zu bewegen, die leider überhaupt
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