Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
ohne Zauberkraft. Doch sie stand stellvertretend für alle Frauen, die das gleiche Schicksal erleiden und ebenfalls eine Ehe führen mussten, die erzwungen war und sie nicht glücklich machte. Jener Tag war ein entscheidender Wendepunkt für diesen Brauch, denn damit ging ein jahrelanger Kampf einher, der zur Folge hatte, dass die unterdrückten Frauen aus ihren Schatten hervor traten und eine eigene Stimme bekamen.“
„Und welchen Zweck soll eine solche Maske bei dem Empfang in zwei Tagen haben? Dabei geht es doch gar nicht um unglückliche Ehefrauen.“
„Das ist richtig, aber der Grund, wofür diese Masken stehen, betrifft längst nicht mehr nur unterdrückte Frauen. Deshalb sind sie heute auch sehr neutral gehalten. Weder stellen sie das Gesicht eines Mannes, noch das einer Frau dar. Und was den Empfang angeht, stehen die Masken stellvertretend für das Volk der Nyriden, ihre Hoffnung und den Wunsch, durch die Vereinigung von Geist und Seele endlich wieder das Gefühl der Vollständigkeit zu spüren oder auch die Leere in ihrem Herzen zu füllen. Und genau das ist alles, was Frau Perchta und ihr Gefolge an diesem Abend in den Anwesenden sehen werden. Weder können sie einen Blick darauf werfen, wer genau sich hinter der jeweiligen Maske verbirgt, noch welche Sünden er oder sie begangen hat.“
„Dann verstehe ich auch, warum der Zauber auf Ort und Zeit begrenzt ist. So eine Maske kann in den falschen Händen ziemlich gefährlich sein.“
Arrow nickte. „Wir müssen wachsam sein. Natürlich will ich es niemandem unterstellen, doch wenn eine der Masken außerhalb unserer Beobachtung missbraucht wird, kann das großen Ärger nach sich ziehen.“
„Denkst du, dass es hier unten einen Spitzel gibt?“, fragte Emily besorgt.
Arrow dachte an die Worte der Todsünden zurück, die ihr seitdem schon unzählige Male durch den Kopf gegangen waren – der Feind lauert in den eigenen Reihen.
„Leider habe ich berechtigte Gründe zu dieser Annahme“, antwortete sie argwöhnisch.
In der folgenden Nacht konnte Arrow lange nicht einschlafen. Ihr Sohn war sehr unruhig und sie spielte wiederholt Szenen in ihrem Kopf durch, wie der Empfang wohl ablaufen würde. Vielleicht spürte Ty ihre Sorgen oder aber es machte ihm etwas ganz anderes zu schaffen. Doch obwohl sie rundum bemüht war, ihn ruhig zu stellen, vermochte sie nicht, ihre Ängste auszublenden.
Würde überhaupt jemand dem Empfang beiwohnen? Und wie würde Frau Perchta reagieren, wenn niemand käme? Einerseits konnte es sein, dass sie damit rechnete, andererseits hätte Arrow ihr diese Ablehnung gern erspart. Doch es war kein Wunder, dass sie in dieser Hinsicht anders dachte als die meisten, denn inzwischen hatte sie die Person hinter den dunklen Legenden kennenlernen dürfen.
Die Stunden vergingen, und während sie das Gefühl bekam, langsam am Ende ihrer Kräfte angekommen zu sein, suchte sie Trost in dem Wandrelief ihres Schlafgemachs. Unablässig wurde sie von den Augen der alten Frau angestarrt, und obwohl das Bild dieses Mal nicht zum Leben erwachte, hatte es für Arrow doch den Anschein, als würde sie Frau Perchtas Blick abwechselnd mit Enttäuschung und Wut strafen. Und dann wieder, in ganz kurzen Momenten, spiegelten sich darin Sorgen über eine ungewisse Zukunft wider.
In den frühen Morgenstunden schlummerte sie dann endlich doch im Schaukelstuhl ein, ihren Sohn auf den Arm haltend. Zum Schluss hatte sie gar nicht mehr wahrgenommen, dass er längst schon eingeschlafen war und über all ihren Sorgen bekam Arrow selbst nicht mehr den Übergang zwischen Wachen und Schlafen mit.
Der Traum, den sie hatte, war äußerst beunruhigend. Auf der Suche nach Emily irrte sie durch das vereiste Labyrinth. Entferntes Gebell hallte durch die Gänge. Wieder und wieder rief sie nach dem Mädchen, doch es antwortete nicht. Dann, an einer Abzweigung, tauchte sie plötzlich ganz unverhofft auf.
„Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“, fragte Arrow, als sie sich zu Emily hinunterbeugte und dabei begutachtete, ob sie unversehrt war. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“
„Ich glaube, ich habe die Abaläe gefunden“, entgegnete das Kind und deutete auf eine Gestalt, die in eine dicke Kutte gehüllt nur wenige Schritte entfernt stand.
Argwöhnisch erhob Arrow sich. Die Person stand regungslos da, und die tief ins Gesicht gezogene Kapuze erlaubte keinen Blick auf ihr Antlitz.
„Du musst keine Angst haben“, sagte Emily. „Geh zu ihr. Sie wartet schon
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