Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Alles, was die Leute wussten, entstammte dem Hörensagen und entsprach teilweise noch nicht einmal der Wahrheit. Ja, es stimmte – wen das Wilde Heer in den Holunderwald verschleppte, für den gab es keine Hoffnung. Allerdings hatte jeder sein Schicksal selbst in der Hand, und der, dessen Gewissen rein war, hatte nichts zu befürchten. Doch wo genau lag die Grenze? War es auch ein Verbrechen, zu stehlen, um nicht hungern zu müssen oder zu töten, wenn es sich um Notwehr handelte? Und wer entschied letzten Endes, ob die Gründe, aus denen man tat, was man tat, auch dem Gesetz gegenüber gerechtfertigt waren? Klare Abgrenzungen gab es kaum und vieles schien sehr verschwommen. Die Wenigsten trauten sich, Entscheidungen für sich selbst zu treffen und mit gutem Gewissen dazu zu stehen.
In dem Augenblick, als Arrow vor die Menge trat, musste sie eine Weile innehalten, um sich der großen Teilnehmerzahl bewusst zu werden. So viele waren zu der Versammlung erschienen, dass sogar die Treppe zum Labyrinth lückenlos belegt war. Und dennoch herrschte Stille, eine Stille, die Gänsehaut verursachte.
In diesem Moment wünschte sie sich, dass sie sich doch dafür entschieden hätte, Anne die Ansprache halten zu lassen. Die Völker vertrauten ihr, denn ihre Stimme hatte – aus gutem Grund – weit mehr Stärke als die von Arrow. Dennoch hatte sie es für das Beste gehalten, sich ihrem Volk und allen, die es anging, selbst zu stellen. Immerhin hatte sie es zu verantworten, dass Frau Perchta und den Gefolgsleuten des Wilden Heeres schon bald der Zutritt zum schützenden Untergrund gewährt wurde. Und ganz gleich, welch unterschiedliche Reaktionen dies mit sich bringen würde, wollte sie dafür gerade stehen.
Lange hatte sie überlegt, wie sie den Flüchtlingen den erwarteten Besuch ankündigen sollte und ein halbes Dutzend Reden dazu verfasst. Ihnen allen wollte sie noch einmal in Erinnerung rufen, warum sie in den Untergrund geflüchtet waren und aufzeigen, aus welchen Gründen sie in der Situation waren, in der sie sich gegenwärtig befanden. Wieder und wieder wollte sie an ihre Hoffnung und ihren Kampfgeist appellieren, ihnen darlegen, dass alles noch schlimmer werden könnte, wenn sie nicht handeln und angebotene Hilfe ablehnen. Doch als Arrow plötzlich vor der großen Menge von Zuhörern stand, verwarf sie alle Reden, die sie vorbereitet hatte, denn sie erkannte, dass es nicht notwendig war, ihnen das alles noch einmal in Erinnerung zu rufen. Harte Zeiten lagen hinter ihnen und ein jeder war sich dessen bewusst, dass solche auch die Zukunft bestimmen würden. Niemand musste ihnen das sagen, denn es war sowohl in ihren Gedanken, als auch in ihren Herzen verankert, wie eine tiefe Narbe, die vielleicht irgendwann verheilen, jedoch niemals gänzlich verschwinden würde. Also beschloss sie, die Fakten kurz und knapp auf den Tisch zu legen und einfach auf sich zukommen zu lassen, was sich nicht verhindern ließ.
„In wenigen Tagen beginnen die Raunächte“, sagte sie in der Hoffnung, das Zittern in ihrer Stimme unterdrücken zu können. „Es ist die Zeit, in der das Wilde Heer den Holunderwald für gewöhnlich bei Anbruch der Dunkelheit verlässt, um auf die Jagd zu gehen. Aber, was viel wichtiger ist, dies ist auch die Zeit, in der Frau Perchta gelegentlich ihr Reich verlassen kann, um Angelegenheiten außerhalb zu regeln.
Längst ist es kein Geheimnis mehr, dass sie unser Volk unter ihre Obhut genommen und unsere Welt damit vor einem schlimmen Schicksal bewahrt hat, ein Schicksal, das weitaus verheerender gewesen wäre, so sie diese Verantwortung nicht übernommen hätte, denn es hätte das Ende unser aller Existenz bedeutet. Nun, da die Zeit gekommen ist, eben jene Verantwortung in die dafür vorgesehenen Hände abzugeben, wird ihr Weg sie und einige wenige ihrer Gefolgsleute zu Beginn der Raunächte am Abend des vierundzwanzigsten Dezember hierher in unsere Mitte führen.“
Ein Raunen ging durch die Halle. Die Leute tuschelten, doch noch besaß niemand den Mut, Fragen zu stellen.
Arrow gab ihnen die Zeit, die sie benötigten, um sich von dem ersten Schrecken dieser Bekanntmachung zu erholen. Als die Stimmen langsam verstummten, sprach sie weiter.
„An diesem Abend, der so bedeutend und wichtig für einen jeden von uns ist, werden sie nicht als Jäger, sondern als unsere Gäste in diese Hallen kommen. Niemand hier hat etwas zu befürchten, denn das alleinige Ziel dieser Zusammenkunft ist es, einen Plan
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