Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
überaus geborgen fühlte. In Schönheit und Gemütlichkeit unterschied es sich zwar kaum von den anderen, doch letzten Endes war es ein ganz bestimmtes Relief, welches ihr genau die Art von Wärme und Heimeligkeit vermittelte, die sie in den letzten Wochen so schmerzlich vermisst hatte.
Hinter der Eiswand saß inmitten eines nächtlichen Winterwaldes eine alte Frau mit Mantel und Kapuze bekleidet an einem Lagerfeuer und wärmte sich die Hände. Sie wirkte erschöpft und auch ein wenig einsam. Dennoch schien sie die Stille um sich herum zu genießen. Sie machte eine überaus freundliche Miene, und obwohl ihr faltiges Gesicht den Eindruck vermittelte, schon viele Jahre gesehen zu haben, waren ihre Hände ebenso glatt und jung wie die einer Zwanzigjährigen.
Ganz gebannt fuhr Arrow mit ihren Fingern über die glatte Eisschicht und spürte, dass sie sich hier zu Hause fühlen würde.
Als die letzten Schlitten an der Schlossanlage eintrafen, war es bereits Abend. Tyron in ihren Armen haltend hatte Arrow aus dem mit Eisblumen verhangenen Fenster ihres Schlafgemachs heraus alles beobachtet. Es war einfach unglaublich. Jeder, der die neue Bleibe erspähte, staunte über den traumhaften Ort.
Trotz der beschwerlichen Reise und der vielen neuen Eindrücke schlief ihr Sohn an jenem Abend schnell ein. So übergab sie ihn für eine Stunde in Annes Obhut und wohnte in der Eingangshalle dem Einzug der letzten Anreisenden bei.
Binnen kürzester Zeit hatte sich das gesamte Schloss mit Leben gefüllt und dennoch nichts von seiner stillen und friedlichen Atmosphäre verloren. An diesem Ort verhielten sich die Leute anders als gewohnt. In ihren Gesichtern hatte sich die Hoffnungslosigkeit restlos verflüchtigt. Plötzlich schien es, als wäre nie etwas Schlimmes geschehen.
„Es gefällt dir hier?“, stellte Keylam beschwingt fest.
„Alles an diesem Ort ist magisch“, erwiderte sie mit leuchtenden Augen. „Es fühlt sich überwältigend an. Ich wünschte, es könnte überall auf der Welt so sein wie hier. Aber es ist nicht echt, oder?“
Keylam ließ seinen Blick durch die Höhle schweifen. Er legte seine Stirn in Falten und versuchte, sich einer Geschichte aus längst vergangenen Tagen zu entsinnen. „Einer Legende zufolge soll dies der Ort sein, an dem die Unschuld zur letzten Ruhe gebettet ist und ewigen Frieden findet.“
„Was genau bedeutet das?“
„Ich glaube, dass ich es einst gewusst habe. Doch inzwischen scheint die Erinnerung daran verschwunden zu sein.“
Als Arrow und Keylam später am Abend in ihr Schlafgemach betaten, saß Anne in einem Schaukelstuhl, auf dessen Lehne auch die Eule Grey gemütlich kauerte, vor dem Kamin und strickte ein paar kleine Söckchen. Und während Marb wie gewohnt mit ihren treuen Knopfaugen auf dem Feuer hockte, schlummerte Tyron derweil tief und fest in seiner Wiege.
„Na, hat er dich beschäftigt?“, fragte Arrow, während sie einen kurzen Blick auf ihren Sohn warf. Er wirkte so friedlich. Manchmal, wenn Arrow ihn beim Schlafen beobachtete, vergaß sie beinahe den Krieg, der viele Meter über ihnen an der Oberfläche wütete. In solchen Momenten gab es keine Sorgen mehr, keine negativen Gedanken und auch keine Ängste. Dann empfand sie nur noch größtes Glück. Ein Gefühl, das sich in solch unsicheren Zeiten leider viel zu schnell wieder verflüchtigte.
„Er hat keinen Ton von sich gegeben“, erwiderte Anne lächelnd.
Keylam, der so vernarrt in sein Kind war, wie es ein Vater nur sein konnte, nahm ihn behutsam aus seinem Bettchen und schloss ihn in seine Arme. Als Tyron seinen Geruch bemerkte, lächelte er kurz. Dann schlief er friedlich und unbekümmert weiter.
„Komm mit“, sagte Arrow zu ihrem Mann. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Mit begeisterter Miene führte sie ihn zu dem Wandrelief mit der alten Frau. „Ist es nicht wunderschön?“
Keylam, der ein begnadeter Maler war und schöne Kunst zu schätzen wusste, betrachtete die Darstellung. Wie Arrow zuvor strich auch er mit seinen Fingern über die glatte Eisschicht, als könne er die zarten Konturen darunter erfühlen.
„Ein beeindruckendes Motiv“, entgegnete er. „So schlicht und doch so bewegend.“
Arrow strahlte. Sie hatte geahnt, dass es ihm ebenso gefallen würde und nun die Begeisterung darüber in seinen Augen sehen zu können, erheiterte sie.
„Aber was ...?“, murmelte Keylam verdutzt. Seine Augen verengten sich und er trat einen Schritt zurück. Ungläubig schaute er zwischen dem
Weitere Kostenlose Bücher