Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
an Annes Worte die Banshees betreffend denken ließ. Ob es sich wohl ähnlich abspielte, wenn man kurz davor stand, ihren Klagerufen zu erliegen, nach dem schützenden Amulett greifen und der Qual ein Ende bereiten zu wollen?
„Es ist alles schon so lange her“, erwiderte sie schließlich mit belegter Stimme. „Trotzdem schmerzen mich die Erinnerungen an ihren Verlust noch immer genauso, als wäre es erst gestern gewesen, denn sie steht mir so nahe, wie es eine geliebte Person nur tun kann. Obwohl sie im Grunde nur meine Halbschwester ist, haben wir schon immer eine ganz besondere Verbindung zueinander gehabt. In glücklicheren Tagen sind wir sogar so unzertrennlich gewesen, dass Unwissende glaubten, wir seien Zwillinge. Dabei ist Perchta um ein Vielfaches jünger als ich. Doch selbst diese Tatsache hat niemals auch nur im Geringsten zwischen uns gestanden. Solange ich denken konnte, teilten wir unsere Begeisterung für die Natur, das Leben und die Magie, die all das zusammenhält. Hätte ich damals schon geahnt, dass ihr genau das eines Tages zum Verhängnis werden würde, hätte ich alles anders gemacht.
Damals war es nicht selten, dass sich Ortsansässige an langen Winterabenden in Gasthäusern einfanden, um dort den Reiseberichten von Abenteurern zu lauschen. Perchta und ich liebten es, diesen Ereignissen beizuwohnen, denn die Geschichten waren oft so fesselnd und manchmal auch so abstrakt, dass man die Fantasie nur selten von der Wahrheit unterscheiden konnte. Und wenn die Erzählungen besonders reizvoll für uns klangen, haben wir uns manchmal sogar selbst auf die Reise begeben, um nach den singenden Bäumen, dem spiegelverkehrten Regenbogen oder den dreiäugigen Hexen zu suchen, von denen die Rede war.
Einmal berichtete ein Reisender von einem finsteren Wald in der entlegensten Ecke dieser Welt. Er sagte, dass dieser Ort auf keiner Karte verzeichnet wäre, da es unmöglich sei, ihn anhand einer bloßen Wegbeschreibung ausfindig zu machen. Wer ihn finden wolle, der müsse sich allein von Mut und Entschlossenheit dorthin leiten lassen.
Der Reisende erzählte weiter, dass dieser Wald von einer Kreatur beherrscht würde, wie man sie kein zweites Mal irgendwo fände – weder in dieser noch in irgendeiner anderen Welt. Sie wäre ein furchteinflößendes, aber gleichzeitig auch einsames Wesen, das die außergewöhnliche Gabe besäße, in die tiefsten Abgründe einer Seele zu schauen und danach über sie zu richten.
Keiner der Anwesenden hatte zu dem Zeitpunkt je von einer solchen Kreatur gehört, und selbst der Reisende vermochte nichts über deren Aussehen zu berichten. Trotzdem zweifelte ich nicht an dem Wahrheitsgehalt seiner Worte, denn tief in meinem Inneren war ich sicher, dass es dieses Wesen tatsächlich geben musste.
Perchta war von Stund an völlig gebannt ob dieser Geschichte und drängte mich viele Tage, mit ihr zusammen nach dem Wald und dem Wesen zu suchen. Doch obwohl wir uns schon das eine oder andere Mal auf mehr oder weniger gefährliche Reisen begeben hatten, schrie alles in meinem Körper danach, diesem Pfad nicht zu folgen.
Es dauerte Wochen, Perchta davon zu überzeugen, sich das Wesen aus dem Kopf zu schlagen. Viele Nächte habe ich damit verbracht, ihr dieses Vorhaben auszureden, und dann, als es endlich schien, dass ich sie umgestimmt hatte, war sie plötzlich eines Morgens verschwunden. Von dem Moment an, als ich das unberührte Bett erblickte, war mir bewusst, wo ich sie finden würde, und obwohl ich keine Sekunde zögerte, mich auf den Weg zu machen, habe ich es doch nicht verhindern können.
In jenem Wald gibt es nämlich noch eine andere, weitaus gefährlichere und bösartigere Kreatur als jene, von welcher der Reisende damals zu berichten wusste. Es heißt, dass sie am Abend an genau der Stelle geboren wird, an der der letzte Sonnenstrahl des Tages die Erde berührt. Wie eine Made windet sie sich aus dem Boden, und an ihren Händen klebt schon Blut, bevor sie ihre erste Gräueltat begangen hat. Im Mondschein glänzt ihre Haut wie flüssiges Pech und trotz der Statur eines kräftig gebauten und hoch gewachsenen Mannes, schleicht sie so leise durch das Gebüsch wie ein schwacher Windhauch. Sie rastet nie und hat auch kein Erbarmen, denn ihr einziges Ziel ist es, eine Jungfrau zu finden, die sie sich auf abscheuliche Art und Weise gefügig macht und einen Teil ihrer selbst somit unsterblich werden lässt, bevor am Morgen der erste Sonnenstrahl ihr Schicksal wieder
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