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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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fremdartiges Gebell. Das müsse der Bock sein, sagte Jan, der sich in dieser Gegend aufhalte und den sie oft am Waldrand hatten stehen sehen. Der Laut war ihnen unheimlich. Sie waren froh, im Dorf zu sein, wo vereinzelt noch die letzten Fernsehprogramme aus den Stubenfenstern flimmerten,den Umriß des Transformatorenhäuschens vor sich auftauchen zu sehen und den Umriß des Pferdes, das schlafend, mit gesenktem Kopf, auf der Wiese stand. Im Bett fiel Ellen der Titel von Dantes berühmtem Buch nicht ein, an das sie schon seit Tagen denken mußte, hieß es »Höllenfahrt«? Wohl nicht. Morgen als erstes würde sie Jan danach fragen. Dafür fand sie einen der Namen für das Ferment, das zum Schreiben nötig war, »Selbstvertrauen«. Es war ihr ganz und gar genommen worden.

9.
    Zwei Welten, das sagt man so. Aber wenn es buchstäblich zutrifft? Wenn wir lange das Gefühl nicht loswerden konnten, wir würden in ein fernes, fremdes Land eindringen, uns von ihm umschließen lassen, daß man am Ende nicht wußte, wer wen einnahm, wer wen eroberte. Aber was war es denn wirklich, und woher diese Gefühle. Die Natur, das schon, die wir zu lange kaum wahrgenommen hatten und die uns in unerwarteter Weise zu schaffen machte. Die Landschaft, gewiß, die uns ergriff. Da waren sie wieder, diese angreiferischen und besitzergreifenden Wörter, die nicht paßten und ohne die unsere Rede stockte. Das Wetter, das wir nicht mehr ernst genommen hatten und von dem wir nun abhingen. Die Jahreszeiten, fast vergessen, die uns überraschten. Das Wachstum der Pflanzen. Das ungläubige Staunen, wenn sich Blüten öffneten, deren Samen wir selbst in die Erde gelegt hatten. Gab es das also doch, wonach wir instinktiv gesucht hatten, als die falschenWahlmöglichkeiten uns in die Zwickmühle trieben: eine dritte Sache? Zwischen Schwarz und Weiß. Recht und Unrecht. Freund und Feind – einfach leben?
    Auch die Zeit lief anders. Allmählich erst, wenn wir lange genug geblieben waren, erfuhren wir das neue Zeitmaß am eigenen Leib, nicht ohne ihm Widerstand entgegenzusetzen, denn die Befürchtung, etwas Wichtiges, das Wichtigste zu versäumen, an Tagen, an denen niemand auf uns einstürzt, nichts geschieht, nur die Färbung des Himmels sich ändert und die Stille zum Abend hin zunimmt – diese Angst ist uns tief eingeprägt.
    Luisa und Antonis fuhren mit Jan und Ellen »die kleinen Städte« besichtigen, mit einer Vorfreude, mit einem Stolz, als hätten sie diese Städtchen selbst erfunden oder sonst hervorgebracht. Sie trafen auf einen jener seltenen Wolkentage, die zu Beginn des Sommers noch vorkamen. Schnell ziehende, weißgraue, getürmte, schön geformte Wolken, an den Rändern von der Sonne durchleuchtet, vor großen Flächen von tiefem Blau. Man konnte sich streiten, und wir stritten uns, ob die Dörfer und kleinen Städte, die wir ja alle inzwischen in mancherlei Beleuchtung kennen, eher unter einem solchen Himmel zur Geltung kommen oder unter der metallisch blauen, ungetrübten Himmelskuppel der nächsten Monate.
    Dörfer, die für wirtschaftlich unergiebig galten, waren in malerischer, vernachlässigter Schönheit liegengeblieben, die anderen, zu ökonomischen Zentren aufgestiegen, waren mit häßlichen neuen Zweckbauten durchsetzt, mit Zentralschulen und Landkaufhäusern bestückt, an die neuen Straßennetze angeschlossen. Antonis hatte eine andere Topographie im Kopf. Aus diesemHaus da hab ich meinen Eichenschrank, sagte er, oder: Hier in der Scheune steht noch eine herrliche Schatulle, die Leute kommen bloß nicht dazu, ihr Werkzeug auszuräumen. Und hier hat mir mal eine alte Frau eine Petroleumlampe geschenkt, bloß, weil ich ihr gefiel. – Ach Antonis! sagte Luisa jedesmal. – Was willst du! Soll das alles zugrunde gehen? – In einem ganz anderen, tieferen Sinn als für uns mußten diese kleinen norddeutschen Landstädte für Antonis Fremde bedeuten, erst jetzt, da wir selbst etwas wie Heimatverlust erfuhren, begannen wir seine inständigen Bemühungen zu verstehen, sich ein Zuhause herzurichten, und sei es dadurch, daß er sich mit alten Gegenständen umgab. Was immer ihn binden, seine Existenz befestigen konnte – er griff es auf. Schwer verständlich schien uns dagegen der Eifer, mit dem die Dorfleute sich der überlieferten Sachen entledigten, sowie die Gelegenheit sich bot, sich neu auszustaffieren, zum Beispiel in den Dörfern, die erst in den fünfziger Jahren an das Stromnetz angeschlossen wurden, ein Lichtfest zu

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