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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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der Zeit, deren Symptome sie alle an sich erfuhren – als Atemlosigkeit, als Angst vor Zurückbleiben, vor Langeweile und Leere –, gebremst werden könnte, ohne daß es dabei auf die eine oder andere Weise zu einer Katastrophe käme. Luisa erhoffte sich doch immer noch etwas von der Einsicht einzelner Gruppen, vielleicht sogar der Herrschenden, Kind, das sie war. Die anderen, wir alle hatten uns an diesen Zustand zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gewöhnt. Daß es in diesem Zeit-Gelände, das man früher und, falls es ein Später gab, sicher auch später für unbewohnbar gehalten hätte und halten würde, doch bewohnbare Flecken gab, in denen Genuß, auch Lebensfreude sich erzeugen ließen; und daß, makaber oder nicht, auch die Lust an dieser Zerreißprobe den zeitgenössischen Lebensgenuß mit ausmachte. Oder wollte einer von ihnen mit einem Mönch, einer Nonne tauschen?
    Du, sei nicht traurig! sagte Luisa zu Ellen und brachte sie zum Lachen, nahm sie am Arm und zog sie durch einen engen Durchgang zwischen zwei schiefen Fachwerkhäuschen auf die nächste der drei oder vier Straßen, die den Ort ausmachen, da standen sie dann vor einer Reihe jener für den Norden bezeichnenden Häuser, deren Fachwerk sich in den Jahrhunderten gesenkt und verschoben hat, so daß man an Fenstern und Türen nicht einen rechten Winkel mehr findet, deren Ziegel aber jenes provozierende brennende Rot behalten, das ihre Erbauer ihnen zugedacht haben durch den Anstrich mit einer Farbe, in der Ochsenblut und gemahlene Ziegel eine Rolle gespielt haben sollen. Ellen war süchtig nach diesem Rot, Luisa auch. Sie standen vorden Häusern und blickten stumm zu den Fenstern hinauf, aus denen alte Männer und Frauen stumm und neugierig zu ihnen herunterblickten. Das tiefste, grellste Himmelsblau war genau der richtige Hintergrund für dieses Rot, das zeigte sich jetzt. Am späten Vormittag hatten sie eine beinahe wolkenlose Zeit. Zauber Zauber fidibus, dreimal schwarzer Kater. Für alle Fälle.
    Sie gingen zur Wassermühle am Ende des Orts, deren urtümliches, längst außer Kraft gesetztes Räderwerk noch in den träge vorbeiziehenden schmalen Fluß hineinragt. Ein Fuhrwerk kam vorbei, auf dem saß zusammengesunken ein Mann mit weißem zotteligem Haar und hochrotem Gesicht. Man wußte nicht: Schlief er, war er tot? In jedem Fall würden die Pferde Kutscher und Wagen nach Hause bringen. Antonis fragte Leute nach alten Möbeln. Man wies ihn zu einem Haus, über dessen Toreinfahrt ein gespenstischer weiß geschnitzter Pferdekopf angebracht war. O du Falada, da du hangest... Eine nicht mehr junge, vernachlässigte Frau trat ihnen in den Weg. Ja, ihre Mutter war gerade gestorben, aber sie blieb abweisend und war nicht bereit, irgend etwas aus dem Nachlaß wildfremden Leuten zu zeigen. Zuerst müßten ihre Kinder sich raussuchen, was sie haben wollten. Im Durchgang zum Hof stand doch tatsächlich wieder eine der begehrten Schatullen, vollgestopft mit Werkzeug und Kram, verwittert und verdorben. Antonis konnte sich nicht von ihr losreißen. In einem Jahr ist die fertig! sagte er zu der Frau, die zuckte die Achseln. Als sie wieder auf die Straße traten, schnupperte Antonis in den Wind: Aus dieser Stadt ließe sich was rausholen! – Ach, Antonis! sagte Luisa.
    Luisa neigte dazu, in allem, was ihr begegnete, einengeheimen Sinn zu sehen, es gab Tage wie diesen, an denen alles und jedes etwas bedeutete. Daß in Schönberg, als sie neben der Kirche das Auto abgestellt hatten, gerade eine Szene ablief, die aus einem alten Bilderbuch ausgeschnitten schien – wie gebannt merkte sie sich jede Einzelheit. Zuerst nur die Blaskapelle, die neben dem Kirchenportal Aufstellung nahm und kirchliche Weisen blies, alles ältere Männer in Bratenröcken und Zylindern. Ihr gegenüber als beinah neuzeitliches Detail der Fotograf mit seinem mächtigen Apparat auf dem dreibeinigen Stativ, der sich auf die Kirchentür konzentrierte. Aus der trat nun ganz richtig, hinter dem Pfarrer, das Brautpaar heraus, schwarzer Anzug er, weißer Schleier sie. Dazu die Linden um den kleinen Katzenkopfpflasterplatz, und – genug! dachte Luisa, übergenug! – schließlich noch die Hochzeitskutsche, die in diesem Augenblick vorfuhr und in die das übrigens blutjunge Brautpaar einstieg, nachdem es sich von Pfarrer, Kapellmeister und Fotograf gemessen verabschiedet hatte, während die Hochzeitsgäste sich in lockerem Zug zum Haus der Braut bewegten, das nur wenige Minuten entfernt sein

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