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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Ausschnitt aus einem langdauernden Gespräch, nicht immer bei Kerzenschein, nicht immer an diesem Tisch, aber immer mit den gleichen Worten geführt, und immer mit den gleichen Stimmen. Hundertmal hatte sie Jan schon zu Nicos sagen hören: Na und? Ob er so wenig Phantasie habe, daß er sich außer seiner begrenzten Daseinsform keine andere je vorstellen, sich in keiner anderen wiederfinden könne? Hundertmal hatte sie selbst gesagt, sie spüre es scharf, wie unvollständig das Leben eines jeden von uns sei, wie es der Erfahrungen entbehre, die der andere habe. Nur sehe sie keinen Ausweg aus dem Dilemma. Wenn man sich nicht, wie frühere Dichter, ins Aus fallen lassen wolle, um der Dauerreibung zu entgehen. – Das, rief Irene, würde heuteheißen, gegen elektrisch geladene Drahtzäune zu rennen. – Clemens sagte: Ronny! Ellen: So ist es, und Jan verwahrte sich gegen die übermäßige Zuspitzung der Alternativen: Das führe zu nichts. Luisa, die niemals Abstand gewinnen konnte, blickte atemlos von einem zum anderen, jemand rief ihr zu – wer war es doch? –, sie solle sich beruhigen. Niemand würde sich ja hier, vor ihren Augen, in eine Leiche verwandeln.
    Nicos sagte: So. Jetzt erzähl ich euch mal eine Geschichte. Laß, Nicos! sagte Antonis, aber Nicos hatte schon begonnen. Etwas aus der Partisanenzeit, sagte er. Ein Cousin von ihm, heute Offizier bei unserer Handelsflotte, habe an seinem Hals eine Narbe, und er erzähle nie, woher. Ich sags euch jetzt. Als schwacher, ewig greinender Säugling war der Cousin mit bei ihrem Partisanentrupp und gefährdete sie alle, sechzig Männer, Frauen und Kinder, als sie sich der Grenze näherten, die von den regulären griechischen Truppen scharf bewacht war. Er konnte einfach nicht still sein, sie wußten nicht, was sie mit ihm machen sollten. Da beschlossen sie in der Leitung, ihn zu töten. Sein Vater, Nicos’ Onkel, der die Einheit führte, sollte den Beschluß ausführen. Mehrere Männer hielten die Mutter zurück. Der Vater hat das Messer dem Säugling an die Kehle gesetzt, hat auch eingeschnitten, töten konnte er ihn nicht. Sie beschlossen, den Säugling leben zu lassen. Mucksmäuschenstill hat er sich verhalten, während sie über die Grenzpässe stiegen. – Schweigen.
    Ob er sich wünsche, daß einer das beschreibe.
    Nein, sagt Nicos. Es sei unmöglich. Er wisse das.
    Luisa sagte, fast weinend, es stehe ihr ja nicht an, eine Meinung zu äußern, aber sie wolle doch sagen, wie frohsie sei, daß sie das Kind nicht geopfert hätten. Nie, nie hätten doch die Erwachsenen ihres Lebens wieder froh werden können. Einen Menschen töten, damit sechzig am Leben bleiben – die Rechnung gehe doch einfach nicht auf.
    Jenny, auf der Ofenbank, betrachtete die anderen, die Älteren, die ihr unheimlich waren, undurchdringlich und unbekannt. Sah ihre großangelegten und ihre kleinlichen Manöver, sich vor sich selber und vor den anderen zu verbergen. Sich in den Posen der Bescheid- und Besserwisser, der Erfahrenen, der Eltern, Lehrer, Richter festzulegen, ihren weichen Kern zu umpanzern. Zum erstenmal dachte Jenny nicht, ihr werde das nie passieren. Wurde sie alt? Was redete Gabriele gerade? Vom Aufsatzschreiben? Was sollte das hier? Natürlich fordert man zwölfjährige Schulkinder auf, über eine Heldentat einen Aufsatz zu schreiben, Jenny erinnerte sich gut. Sie hatte sich einfach eine Person und eine Heldentat ausgedacht, weder Zeit- noch Gefühlsaufwand damit getrieben. Das Mädchen aus Gabrieles Haus war zu Nicos gekommen, hatte ihm Heldentaten abgefragt, die sie dann aber alle ablehnen mußte. Sie kannte ihre Lehrerin. Weder Angst noch Vorsicht noch Unsicherheit durften in ihrer Heldenbeschreibung vorkommen, und sie hatten schließlich so lange an einer wahren Geschichte herumgebastelt, bis sie den Ansprüchen der Lehrerin entsprach. Aber nicht deshalb erzählte Gabriele diesen Vorfall; ihr war, während sie nach Heldentaten der Gegenwart suchte, die der Lehrerin natürlich am liebsten gewesen wären, aufgefallen, daß es eigentlich keine Gelegenheit mehr zum Handeln gab. Die Pläne für ein Schiff zeichnen – nun gut. Produkte insAusland verkaufen, die Devisen brachten – auch nicht schlecht. Aber Taten? Taten seien das doch wohl nicht. Nein, sagte Antonis, aus irgendeinem Grund befriedigt, da sei es schon eher eine Tat, ein Buch zu schreiben, und merkwürdigerweise widersprach ihm niemand. Ellen, der es unwahrscheinlich vorkam, daß sie je wieder ein Wort schreiben

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