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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Toleranzgrenzen. Nicht Ortsveränderungen und heftige Bewegung wünschte er sich. Das war es übrigens, was Irene merkwürdigerweise nicht verstehen wollte: daß er vor alle anderen Wünsche und Verpflichtungen die Notwendigkeit setzen mußte, sich seine Ruhe zu sichern. Ruhe, Ruhe, Ruhe, hörte er oft eine Stimme in sich. Ruhe um fast jeden Preis. Er konnte es Irene nicht sagen, daß jedes Experiment sein gefährdetesGleichgewicht zerstören konnte. Daß all ihre Anstöße, all ihre Hoffnungen, er werde doch noch tun, was er im Innersten wünschte – seine Existenz verändern; irgendwelchen kühnen Plänen leben –, ganz und gar fehl an Platze waren. Nein. Bewußt reihte er sich ein in das große Heer der Männer seiner Generation, die auf ihr Rentenalter warteten, um mit dem Leben anfangen zu können. Bis zu seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr würde er – ein Horrorbild – die ausgetretenen Steinstufen zu seinem Arbeitszimmer im Institut hinaufsteigen, täglich, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage und der gepriesenen, herbeigesehnten Urlaubswochen. Mit Ausnahme auch der gepriesenen Krankheitswochen, die, da war er sicher, sich Jahr für Jahr verlängern würden. Die Augen innerlich fest auf dieses Ziel, sein Alter, gerichtet, würde er alle Demütigungen durch seinen Chef hinnehmen, den er genußvoll einen Paranoiker nannte. Wegstecken, lautete der formelhafte Vorsatz, der sich über die Jahre hin in ihm gebildet hatte (»formelhafte Vorsatzbildung«, war es ja, was er auch seinen Patienten dringlich anempfahl). Aber wohin stecken? Es mußte ein geheimes Reservat geben – der Teufel mochte wissen, wo all diese seelischen Vorgänge in eines Menschen Körper lokalisiert waren –, das all seine unerfüllbare Sehnsucht, seine ungenutzten Kräfte, seinen ohnmächtigen Zorn und seine Mißgunst auffing und sammelte. Und dann bildete sich plötzlich, für ihn selbst überraschend, in diesem imaginären Behältnis ein explosives Gemisch, dann ging er hoch, dann platzte er am unrechten Ort und machte Irene eine Eifersuchtsszene.
    Worüber verhandelte David mit Anton? Ob das Holzfür ein kleines Tischchen reichen würde. Clemens sagte zu Josef und Anton: Ihr könnt überhaupt nicht mitreden, ihr Freischaffenden.
    Was zählte, war dieser Platz. Dieses Haus, das er sich befestigen würde, in dem er den Unbilden der Zeit, später den Unbilden des Alters standhalten würde. Aber du lebst ja gar nicht! konnte Irene ihn weinend beschwören. Du lebst ja gar nicht jetzt! – Daran mochte etwas Wahres sein, aber es war nicht zu ändern. Manchmal, wenn er nachts wach lag, auf seine inneren Ströme lauschte, kam ihn eine Angst an, seine gedrosselten Lebenssäfte könnten zum Versiegen kommen. Leise, ganz leise mußten sie weitersickern, damit er sie später, wenn er von niemandem mehr abhängig war, wieder voll aufdrehen konnte. Dann würde er leben. Bis dahin würde er sich mit dem Vorgeschmack davon begnügen.
    Luisa, wußte er, kannte seine innerste Verfassung, und manchmal schien sie Angst um ihn zu haben. Das rührte ihn, dann spielte er ein wenig mit ihrer Angst, das tat ihm wohl. Aber an die tieferen Schichten seines Gemüts ließ er auch sie nicht heran, da konnte Irene ganz ruhig sein.
    Die Schwierigkeit ist, wie übrigens immer, die Gleichzeitigkeit der vielen Ereignisse in die lineare Erzählung einzubinden. Niemand kann an allen Ecken und Enden gleichzeitig sein. So soll Jonas an der Haustür einen Einlaßdienst eingerichtet haben, es soll zu Auseinandersetzungen mit ihm gekommen sein, als einige Gäste sich durch fadenscheinige Argumente der Ausweiskontrolle entziehen wollten, bis David, auf den Jonas mehr hörte als auf jeden anderen, mit ihm ausgehandelt hatte, daß die Malvenblüte, die jeder trug – im Knopfloch, imHaar, im Blusenausschnitt, sogar als Schuhschnalle –, Ausweis genug war. Jonas brauchte eine lila und eine gelbe Malvenblüte für seinen Dreispitz, weil diese Kombination todsicher gegen böse Geister wirken sollte. Dann ging er mit David, dessen Stimme seit kurzem manchmal schon in die tieferen Lagen umkippte, zu den Stuhlbauern hinterm Haus. Wir sind in dem Stück die Wächter, nicht, David? David sagte, er sei in dem Stück der Tischler. Ich vielleicht auch, sagte Jonas. Tischlerlehrling, wie findest du das. – Spitze! sagte David.
    Jenny schrie, bei diesen unmöglichen Darstellern werde sie noch verrückt. – Warum blieb nichts, wie es war. Warum konnte sie jetzt am Küchenfenster stehen

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