Sommerstueck
ehemaliger Schlafkammer und wurde, und zwar ebenfalls von Michael, mit Erdnüssen gefüttert, eine ideale Einrichtung, fand Irene. Sie wollte gerne mit Ellen auf Littelmarys Probleme zu sprechen kommen, während sie schnell das Kaffeegeschirr abwuschen. Irene hatte schon mehrmals angedeutet, daß ein vierjähriges Kind eigentlich allein und im Dunkeln in einem Raum schlafen sollte, ohne andauernd bei den Erwachsenen zu erscheinen, um sich zu vergewissern, daß sie auch wirklich und wahrhaftig da seien. Gerne wollteIrene Ellen mitteilen, was über solch kindliches Schlafverhalten in ihren Büchern stand, aber Ellen tat wieder, als wisse sie das alles, und verschloß sich. Es lag ja auf der Hand, das Kind hatte Angst, verlassen zu werden. Alle Kinder, deren Eltern sich scheiden ließen, haben diese Angst.
Verfluchter Hochmut. Als sei in ihrer Familie sogar eine Scheidung etwas anderes als anderswo, bei ihr selbst zum Beispiel, Irene. Als sei eine Scheidung nicht notwendig die tiefste Niederlage für eine Frau. Und die Behauptung, man könne es auch anders sehen: als Befreiung, als Schritt zur Selbständigkeit – diese Behauptung war doch pure Heuchelei. Aber das würde Ellen niemals zugeben. Nie würde sie Schwäche zeigen. Klar, daß sie genau verstand, worum es ging, und daß es ein reines Ablenkungsmanöver war, wenn sie jetzt anfing, von ihrer Einseitigkeit zu reden und davon, daß sie eigentlich gar keine Eignung gehabt habe, für gar keinen Beruf, und daß dies ihr oftmals, während sie studierte, große Angst gemacht hatte. Unglaubhaft, dachte Irene. Sie kann nicht wissen, was Angst überhaupt ist, sie will mich bloß auf Abstand halten. Da steht immer, auf meiner inneren Bühne, dieser Erwachsene und sieht dem Kind, das ich eigentlich bin, unbeweglich zu. Dieser entsetzliche Erwachsene, dem die anderen Erwachsenen, besonders Clemens, besonders Ellen, manchmal so ähnlich sahen. Neulich, in der Oper, habe ich ihn erkannt, bis zum weißen Schrecken, bis zum Weinkrampf erkannt: den steinernen Komtur. Der mit seinem schweren Schritt den liebeleeren, nach Liebe lechzenden Verführer einfach zermalmt. Wie es rechtens ist. Wem aber soll ich sagen, daß dieses Ereignis auf meiner innerenBühne beinahe täglich stattfindet. Der Erwachsene in mir immer häufiger in Gestalt des steinernen Gastes und, vor Angst vergehend, das Kind, das ich eigentlich bin und das ihn rufen muß, weil es, weil ich nicht aufhören kann zu hoffen, nicht er werde kommen, der Rächer und Strafer, sondern eine lebendige, liebevolle Gestalt, die das Kind in die Arme nimmt, die es erlöst... Und wessen klägliche Stimme, dachte Irene, ist das jetzt, die ich zu Ellen sagen höre: Ich glaube, du bist gegen jeden von uns voller böser Gedanken.
Tränen? Ellen weinte?
Der Tag läuft nicht gut, dachte Ellen. Es kam zuviel zusammen. Erklären konnte man es ja, daß der Innendruck ansteigt, wenn die Außenwelt jede Möglichkeit des Handelns blockiert. Nur nützen die Erklärungen nichts, da jede Deutung, jedes Verstehen durch ein einziges Wort gebrochen wird: zu spät. Es blieb bei Halbheiten. Halbwahr Irenes Satz, halbwahr auch ihr Erschrecken, ihr Versuch der Zurücknahme. Halbwahr der Ausdruck, mit dem ich ihr übers Haar streiche. Wahr nur die Tränen.
Bella kam. Im unrechten Augenblick, fand Irene. Sie hätte das Gefühl, das sie in Ellens Umarmung empfand, noch auskosten mögen. Noch prüfen mögen. Konnte sie sich darauf verlassen? Unter Tränen betrogen werden, das wäre das schlimmste. Das wäre tödlich. Und war es nicht so? War nicht der Blick, den Ellen jetzt Bella zuwarf, ein Liebesblick, wie sie ihn nie empfing? Was tat Bella dafür, geliebt zu werden? Nichts. Sie kam einfach herein, sie fragte nicht, ob sie störe, sie wußte, sie war willkommen. Ihr Haar trug sie Jahr für Jahr auf die gleiche Weise, nie mußte sie sich daran mit derSchere vergehen. Und wenn Bella unglücklich war, so war sie es doch auf eine vom Grund her andere Art als sie. Selbst das Unglück war bei ihr, wie es sein sollte, und sie käme nicht auf den Gedanken, sich selbst daran die Schuld zu geben. Noch im Unglück hatte sie Glück.
Bella sagte, sie seien wohl schon mitten im Stück, erster Akt, zweite Szene, was? Ellen sagte, die Szene gefalle ihr anscheinend nicht? Nicht besonders, sagte Bella. Soweit sie das beurteilen könne. Ellen sagte zu Irene: Dann müssen wir die Szene umschreiben. Auf Wunsch einer einzelnen Dame. Da kam Jenny und erlaubte sich die
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