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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Anfrage, wie das Stück eigentlich heiße. Sie sei ja nur der Regisseur.
    »Liebe als Gefangenschaft«, sagte Irene schnell. Nicht übel, fanden die anderen. Daraus ließe sich was machen. Bloß, wo wolle sie bei einem so herzzerreißenden Titel mit ihrem Tschechow hin. Ach, rief Irene, sie hätten ja keine Ahnung. Gebe es etwas Herzzerreißenderes als »Die Möwe«? Gebe es Herzzerreißenderes als die tödlichen Leidenschaften hinter seinen mühsam verhaltenen Dialogen? Wie du meinst, sagte Jenny, nur liege die Betonung auf verhalten . Also gut. »Liebe als Gefangenschaft« könne das geheime Motto des Ganzen sein, das sie, Jenny, herauszuarbeiten habe, mit Hilfe der Darsteller. Den Titel könne man allgemeiner wählen. Neutraler. Etwas wie »Landleben«. Oder, noch besser: »Sommerstück«. Wie das denn wäre. Sommerstück? Warum nicht. Das könnte gehen. Lassen wir es dabei.
    Welche Rolle eigentlich Jan übernommen habe, wollte Ellen wissen. Keine! rief Jenny. Es sei wieder mal typisch. Weißt du, was er machen will? Inspizient! –Und was hätte er spielen sollen? – Das ist das allerschlimmste, sagte Jenny, ich hätte es nicht gewußt. Vater paßt in keine Rolle.
    Wohlwollend beobachteten alle durch das Küchenfenster, wie Jan mit Hilfe von Josef und Anton unter dem Apfelbaum auf einem Campingtisch eine Bar aufbaute. Sinnlos, alle Vorgänge beschreiben zu wollen, in die der Nachmittag sich aufgliederte. Jennys Erinnerung würde sich an diesem Tag festhaken. An diesem Blick aus dem Küchenfenster auf Anton, den er, wie meistens, sofort spürte und wie zufällig spöttisch erwiderte. Wußten sie, daß sie sich trennen mußten? Gewußt, was heißt gewußt. War deshalb ihre Freude so hoch aufgeschossen, als sie am Morgen in dem graugrünen Bündel auf der Bank Anton erkannt hatte? Daß du noch kommst! rief sie und verriet sich. Nichts war zwischen ihnen vorgefallen. Es war undenkbar, daß mit Anton etwas »vorfallen« konnte. Jenny kannte keinen Menschen – ganz zu schweigen einen Mann –, dem Macht so wenig bedeutete wie Anton. Er war genau der Richtige gewesen, mit dem sie in dem Vorort, in dem sie damals beide wohnten, nächtelang durch die Straßen wandern konnte, verborgen unter seinem weiten Fellmantel. Mit dem gemeinsam sie immer gelassen den Polizeikontrollen begegnen konnte, die, zwei-, dreimal jede Nacht, ihre Personalausweise zu sehen verlangten. Diese Gelassenheit war ein Grundzug von Antons Wesen, die man auch Wehrlosigkeit nennen konnte und die auf andere entweder entwaffnend oder provozierend wirkte. Mit Anton redeten sehr unterschiedliche Leute über ihre geheimsten Schwierigkeiten, wie mit sich selbst kaum. Oder genau genommen, dachte Jenny, lenkte er die Klagen,die Leute ihm vortrugen und die sich meist gegen andere Personen oder gegen die Umstände richteten, unmerklich auf das, was er für wesentlich hielt: auf ihre Unbekanntheit mit sich selbst. Eigentlich sagte er nichts. Nur selten stellte er eine Zwischenfrage. Fast nie gab er ein Urteil ab, unter keinen Umständen ein abfälliges. Ganz anders als ich, dachte Jenny. Sie urteilte, sie empörte sich, verachtete. Obwohl sie beide, in einer jener klaren kalten Mondnächte, übereingekommen waren, daß auch jene Leute, die Jenny verächtlich fand, jene Lehrer, Meister, Autoritäten, jene Menschen im Futteral, an sich selbst nicht schuld waren. Aber, meinte Jenny, sie war es sich schuldig, ihnen nicht so mir nichts, dir nichts zu verzeihen. Wo kämen wir denn da hin.
    Anton war anders. Anton konnte trocken erzählen, wie er – das war am Kindertag des Jahres, in dem er zweiundzwanzig wurde –, und zwar dreißig Minuten nach der Frühstückspause, in seiner Werkhalle groß eine Frage hatte aufstehen sehen. Die lautete: Soll das denn dein ganzes Leben lang so weitergehn? Die Antwort auf diese Frage fand er fix und fertig in sich vor. Sie lautete: Nein. So hatte er denn das Instrument, mit dem er gerade die Präzision eines Werkstücks auf Zehntelmillimeter genau hatte abmessen wollen, wieder zurückgelegt, hatte seinen Werkskittel ausgezogen, seinen Schrank ausgeräumt, hatte sich herzlich von den Kollegen und vom Meister verabschiedet, und, als er zu ungewohnter Stunde zum letztenmal durchs Werktor ging, dem Pförtner die Blume aus seinem Bart geschenkt: die hatte der immer als Werksausweis gelten lassen. Ein irres Gefühl, sagte Anton, wenn du wirklich kapierst, dir kann keiner was. Du bist, wenn du bloßwillst, dein eigner Herr. Nur deine

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