Sommerstueck
Innenleben unserer Familie nicht mehr so sehr. Seit wann? Das wußte sie nicht.
Sie sagte aber, so schlecht finde sie das gar nicht. Zum Beispiel könnten sie doch jetzt mal schnell zu dritt über die Mutter reden. Ob sie denn sicher seien, diese Bauernhausmanie bei ihr sei echt? Ob sie nicht fänden, es passe gar nicht zu ihr, sich hier zu verkriechen? Ob sie nicht auch glaubten, sie brauche eigentlich das Getümmel?Und ob sie nicht fürchteten, sie werde in eine Grube fallen, wenn sie erst mal merke, wie still es hier wirklich sei?
Ellen kam herein. Wir sind gerade über dich hergezogen, sagten sie zu ihr. Das habe sie auch nicht anders erwartet, sagte Ellen. Leider leider hätten ihre Töchter keinen Herzenstakt, und den könne auch die sorgfältigste Erziehung und die beste Abstammung nicht vermitteln. Ihr Blick suchte Sonjas Blick. War etwas geschehen? War das Schlimme, das sie, bald bewußt, bald unbewußt für ihre Kinder befürchtete, vielleicht eingetreten? Hatte es der Tochter vielleicht jenen unstillbaren Kummer zugefügt, den sie ihr um jeden Preis ersparen wollte? Hatte Sonja genug geschlafen? Wie sah sie aus? Sie wich ihrem Blick aus, ließ sie hängen. Hast du wenigstens genug gegessen?
Aber ja, aber ja. Jeder, Frau Mutter, sagte Jenny, muß sich die Sorgen machen, die er braucht. Ungerührt ließ sie sich ein gewissenloses Geschöpf nennen. Jan erkundigte sich, welche Sorte Fleisch er für morgen aus der Kühltruhe nehmen sollte. Und ob sie noch ein Glas Wein zu trinken gedächten. – Wein? Immer!
Sie vier um den Familientisch, so sollte es sein. Sonja wartete darauf, daß das Gefühl, auf das sie aus gewesen war, sich in ihr ausbreitete. Dadurch würde nichts in Ordnung kommen. Im Gegenteil. Alles außerhalb des Lichtkreises dieser Lampe, die sie tief herabgezogen hatten, so daß ihre Gesichter im Schatten, nur die Hände auf dem Tisch im Licht waren, schien ihr in tiefer Verwirrung und Unordnung zu sein, und von ihnen allen bekam nur sie mit dieser gefährlichen Unordnung wirklich zu tun, und nur sie war in der Gefahr, von ihr verschlungenzu werden. Dagegen, fand sie heute, waren die Verwicklungen, in die sie ihre Mutter hatte geraten sehen und derentwegen sie sich um sie hatte sorgen müssen, nicht wirklich lebensbedrohlich gewesen. Die hatte doch immer – mag sein, im letzten Moment, ja – Praktiken gefunden, die es ihr erlaubten, die Nase über der Flut zu halten, und sei es um Millimeter. Vom Vater zu schweigen. Der war nicht so stark in Versuchung geraten, sich in den Strudel zu werfen, zum Glück nicht. Warum konnte sie erst jetzt anfangen zu sehen, daß eben dies seine Stärke war, warum sollte sie nur die Abhängigkeiten der Mutter als Stärke sehen. Begann alles noch einmal sich umzuwälzen? Konnte sie das wollen? Konnte sie das aushalten? Wenn ihr wüßtet. Wenn ihr wüßtet, was ich aushalten kann.
Wenn ihr wüßtet! hörte sie im gleichen Augenblick ihre Schwester sagen. Wenn ihr wüßtet, was ich alles angestellt habe! Aber du, sagte sie zu Ellen, hast mir mal gesagt: Egal, was du anstellen solltest, und sei es noch so schlimm, ich hab dich immer lieb. Darauf kannst du dich felsenfest verlassen. Und den Ablaß hab ich in Anspruch genommen. Wenn ihr wüßtet!
Immer müsse Jenny sich mit ihrem Lebenswandel brüsten, sagte Sonja. Sie habe nie was angestellt. Sie sei immer brav gewesen. Viel zu brav.
Eigenlob stinkt, sagte Jenny, Ellen wußte, dieser Kehrreim: Viel zu brav! richtete sich gegen sie, und Sonja dachte, wie vieles auch in einer redseligen Familie wie der ihren unausgesprochen bleibe. Sie war dafür, alles auszusprechen, auf den Grund zu gehen, die Quellen für die Konflikte bloßzulegen. Diese Grundsätze habe sie selbst früher auch vertreten, sagte Ellen. Und sogarnach ihnen gehandelt. Und Unheil damit gestiftet. Heute sei sie eher dafür, einander gelten zu lassen. Sogar einander zu schonen. – Aber das bringt doch nichts, sagte Sonja. Offenheit müsse ja nicht Rücksichtslosigkeit sein. Aber wie solle man sonst zur Realität überhaupt vorstoßen!
Jan sagte, er sei für den goldenen Mittelweg.
Weißt du, an wen ich jetzt denken muß? sagte Ellen zu Sonja. An deinen ersten Klassenlehrer, wie hieß er doch gleich. Du hattest ihn nur ein Jahr, weil wir dann umzogen. Da sagte er mir beim Abschied: Tun Sie mir einen Gefallen – passen Sie auf Sonja auf. Das ist ein ganz besonderes Kind.
Was! rief Sonja. Und das hast du mir nie gesagt!
Ach, sagte Ellen, wie oft
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