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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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brachte das Brett mit der Pita. Alle versammelten sich um die lange Tafel. In den Bäumen glühten Lampions auf. Die Unken wurden toll. Ab heute, sagte Luisa, rollt die Kugel den Berg wieder runter.

16.
    Ein neues Kapitel, ein anderer Ansatz, die Farbe Blau kommt ins Spiel, eine blaue Höhle, in die Sonja hineinkriechen würde, sich verkriechen, Ruhe finden. Nur noch wenige Minuten dieser qualvollen Zugfahrt, inmitten der Bauarbeiter, die am Donnerstagabend von ihrem Berlin-Einsatz nach Hause fuhren und sich betranken. Na, Frollein? Dazu machte sie ihr Gesicht, das ihr Vater »entzündet« nannte. Immer hielt man sie für jünger, als sie war, auch ihre Patienten sagten »Frollein Doktor« zu ihr. Und sie war keins von beiden, nicht Frollein, nicht Doktor. Nur noch ein paar Viertelstunden hatte sie es zu vermeiden, sich den warmen Atem und den Duft von Littelmary zu stark vorzustellen, so wie sie es in der Stadt abends vor dem Einschlafen gewaltsam vermied. Wenn sie ins Auto stieg, wenn sie losfuhren,würde sie die Tür in ihrem Innern, hinter der sie ihre Sehnsucht fest verschlossen hielt, ganz wenig öffnen, einen winzigen Spalt nur, und dann, auf der Fahrt, würde sie spüren, wie die Sehnsucht ihrem Gefängnis entwich, sie ganz ausfüllte. Wenige Fragen und Antworten würden zwischen ihrem Vater und ihr hin- und hergehen, die Scheinwerfer würden sich durch den dunkelgrünen Lichttunnel bohren, und am Ende dieses Tunnels läge die blaue Höhle. Vorher noch die Einfahrt in den Bahnhof, das Gejohle der Betrunkenen auf dem Bahnsteig, der Gestank aus den offenen Zugtüren. Das Gesicht des Vaters am Fuß der Bahnhofstreppe. Grüß dich, würde sie sagen, und er würde ihr ins Genick greifen, wie er ihr immer ins Genick gegriffen hatte, als sie ein zu langes, zu staksiges Mädchen gewesen war. Sonja dachte, wie merkwürdig es war, daß das Körpergefühl des zu langen, staksigen Mädchens sich nicht verlieren wollte; daß ein abschätzender Blick eines beliebigen Mannes diesen Phantomkörper in ihr wiedererstehen ließ; daß sie wohl wußte , aber nicht glauben konnte, daß dieser Blick auf eine schlanke, wohlgebildete junge Frau traf, zu der der Vater, die Hand immer noch an ihrem Genick, sagen würde: Mal ein bißchen durchschütteln, die Mucken herausschütteln. Sie entzieht sich dem Griff. Sie gibt ihm ihre Tasche, die er zum Auto trägt. Nun sitzt sie im Auto. Nun soll geschehen, was immer geschah: Alles, was hinter ihr liegt, soll von ihr abfallen. Das Gesicht jener Frau, das sie im Zug noch verfolgt hat, soll schwinden. Ob es diesmal wie immer gelingt, ist nicht sicher. Sie weiß, wo sie nur die Scheinwerferschneise, die Schwärze der Nacht rechts und links sieht, ist für ihren Vater die Landschaft gegenwärtigwie am Tag. Dutzende von Fahrten haben für jeden Meter der Wegstrecke das dazu passende Abbild in ihm befestigt.
    Auf dem letzten Stück der Fahrt wird Sonja still. Die paar dürftigen Dorflaternen, die Schlimmes anzukündigen scheinen. Die Kneipe an der Ecke, die der Scheinwerfer abtastet, das elende Kopfsteinpflaster.
    Die Genossenschaftsställe, mit Flutscheinwerfern taghell erleuchtet, vor denen sie rechts abbiegen. Die Jauche auf dem Weg. Der Gestank. Dann geht es ins Dunkle, Unwegsame, immer an dieser Stelle beginnt für Sonja die Wildnis, die sie anzieht und abstößt. Das schmale helle Band des Sandwegs, in den Gesträuch hineinwuchert. Zwei, drei Hasen, die, hypnotisiert, kaum aus dem Lichtkegel wieder herausfinden und die Jan anredet. Na mach schon. Was soll denn das. Dummes Tier. Der schwarze Katen linkerhand, ein vom magischen Fernsehlicht erleuchtetes Fenster. Die letzte scharfe Einbiegung. Endlich unser Grasweg. Heimkehr? Die Heimkehr der verlorenen Tochter, denkt Sonja. Ach. Einige Sätze von Jan über die Leute, die in den kleinen Häusern neben der Straße wohnen. So spät noch fernsehen, sagt Sonja, mitten auf dem Land. Das ist der Fortschritt, oder? Dann das Weidengesträuch nah bei unserem Haus. Die auf den Zentimeter genau abgezirkelte Kurve in die Einfahrt, am Hausgiebel vorbei, noch mal ein kühner Bogen auf dem Grashof. Genau vor der dunklen Scheunenöffnung bringt Jan das Auto zum Stehen. Das Licht auf dem Hof, gefiltert durch die blauen Küchenvorhänge. Hier war sie nun.
    Sie wurde erwartet. Das Kind hing ihr am Hals, Littelmary. Wie du nach Kräutern riechst! Und: Bist du immernoch nicht im Bett! konnte Sonja sagen, wie es von ihr als Mutter sicherlich erwartet wurde, damit

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