Sommerstueck
Littelmary ihr nachweisen konnte, daß ihre Ankunft jedes lange Aufbleiben mehr als rechtfertigte. Aber ja, aber ja. Ein Wirbel um sie herum in der Küche, Jenny, die es schon immer verstanden hatte, Wirbel zu machen, die Blicke der Mutter, forschend, darum bemüht, nichtforschend zu wirken, alles wie immer, und die Wände der Küche waren blau gestrichen, das Wachstuch auf dem Tisch blau gemustert, blaues Geschirr. Die blaue Höhle, aus deren Dämmer die tief herabgezogene Lampe ein einziges helles Lichtdreieck herausstach.
Bleichgesicht. Blaßnase. Stadtmensch.
Wie klang Ellens Stimme? Unauffällig? Jetzt hatte Sonja zu sagen, sie sei der einzige Vertreter der werktätigen Bevölkerung in dieser Familie, das sagte sie, und dafür sollte sie nun eine gute Suppe bekommen, die man ihr aufgehoben hatte. Jenny brühte Tee, dann saßen sie alle um den Tisch und sahen andächtig zu, wie der werktätige Mensch aß und trank. Sie fragten nichts, sogar Ellen hatte es sich abgewöhnt, die Fragen, die hervordrängten, gleich zu stellen. Iß und trink! Diese unerschütterliche Überzeugung, nur im Schoß der Familie werde sie richtig ernährt. Und es war ja die reine Wahrheit. Eine Sauerampfersuppe wie diese bekam sie nirgends sonst, das konnte sie ohne Übertreibung zugeben. Hand aufs Herz und nicht gelogen? fragte Littelmary. Sie hatte nämlich den Sauerampfer geerntet. Mit Jenny zusammen.
Großmütig stimmte sie dem Vorschlag zu, schlafen zu gehen. Wenn Ellen sie ins Bett brachte. Wenn Sonja dann käme und ihr gute Nacht sagte. Ihr noch eine Geschichtevon der Fortsetzungsserie erzählte. Gut. Aber welche Serie sei denn dran? Die vom Eulenspiegel. Zu unserer Zeit, sagte Jenny, war es immer die Tierserie, erinnerst du dich? Mit Fuchs und Bär und Eichhörnchen. – Zu deiner Zeit, sagte Sonja. Zu meiner Zeit war es die Prinzessinnenserie. – Was mag noch kommen, dachte Ellen. Zwerg Erwin war noch nicht geboren. Bei Jennys Kindern käme die Serie von Zwerg Erwin. – Würde die Nachttischlampe brennen bleiben? Ellen versprach es Littelmary. Sonja wechselte einen Blick mit ihr: Immer noch? – Immer noch. – Du, sagte Jenny, hast du schon die Prinzessinnen mit den endlos langen Hälsen gesehen, die deine Tochter jetzt malt? Wahnsinn!
Sie sahen der Mutter nach, wie sie Littelmary vor sich her aus der Küche schob. Wahrhaftig, sie alterte. Ihre Haltung hatte sich verändert, war erschlafft, ihr Gang wurde ungeschickter, sie schien ihre Hüften zu schonen. Sonja versuchte, sich die ganz junge, ihr gleichaltrige Mutter vorzustellen, die dem Arzt sagte: Doch. Sie wollte das Kind haben!, obwohl sie mitten im Studium war. Wie später sie selbst das gleiche sagen und tun sollte, das Kind bekam, sich dann prompt, wie mehr als zwanzig Jahre früher die Mutter, im Examen überarbeitete. So daß sie, die Mutter, ihrem Kind manches schuldig blieb. Wie ich, dachte Sonja. Die ich so sicher gewesen war, daß ich die gleichen Fehler nicht wiederholen würde. Nie. Nie. Für den Bruchteil von Sekunden sah Sonja vor sich die Spur von Schritten, spürte den Zwang, in dieser Spur gehen zu müssen, ein Leben lang. Das nicht. Eher ausbrechen, um jeden Preis.
Jenny hatte angefangen zu erzählen, wie ihr, als sieklein war, eine Geschichte der Mutter einmal das Leben gerettet habe – so habe sie es damals empfunden, so behalten. Als sie diese schrecklichen Bauchschmerzen hatte und diese noch schrecklichere Angst, der Bauch werde ihr platzen, so wie die großen Jungen, diese Sadisten, es ihr eingeredet hatten – wie ihr da die Mutter von dem kleinen Fuchs erzählt habe, dessen schreckliche Bauchschmerzen allmählich vergangen waren, und ihr dazu ganz sanft den Bauch gestrichen habe, und allmählich waren auch ihre Angst und dann die Bauchschmerzen vergangen. Diese Erleichterung! Immer werde sie sich daran erinnern.
Psychosomatische Symptome, sagte Sonja. Bei wem? sagte Jan, der hereinkam. Haarklein mußte ihm jedes Wort wiederholt werden. Also, wenn Frauen neugieriger sein sollen als Männer, sagte Jenny, bei ihnen sei es jedenfalls umgekehrt. Überhaupt: In dieser Familie könne jeder mit jedem stundenlang über die beiden anderen reden. Jeder frage jeden ununterbrochen, was er gemacht habe, was er gerade mache und was er in nächster Zeit zu tun gedenke. Jeden interessiere nichts so sehr wie die Seelenperistaltik der drei anderen. Ob das nun gerade normal sei, das möchte sie gerne mal wissen. – Mich nicht, dachte Sonja. Mich interessiert das
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