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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ich dir das gesagt hab!
    Sollte das wahr sein? Sollte das heißen, daß sie Lob vergaß und nur die Niederlagen und das Versagen behielt? Übrigens, sagte sie, hieß er Pankow, mein erster Klassenlehrer. Und er liegt seit zwei Wochen auf meiner Station, bei den Alkoholikern. Entziehungskur. Natürlich habe ich ihn mir nicht als Patient geben lassen. Er hat mich auch, hoff ich, unter meinem anderen Namen nicht wiedererkannt.
    Damals, sagte Ellen nach einer Weile, habe nichts darauf hingewiesen, daß Herr Pankow anfangen würde zu trinken. Ja, sagte Sonja: Familiäre Probleme, ein Parteiverfahren, und überhaupt: die Pädagogik – wie das halt so ist. Keine Schonung im wirklichen Leben.
    In Ellens Kopf lief wieder einmal einer dieser Filme ab. Deutlich sah sie nach so vielen Jahren – siebzehn? Achtzehn? – das sehr junge Gesicht von Sonjas erstem Lehrer vor sich, die Haarsträhne, die ihm in die Stirnfiel, sie glaubte sich sogar zu erinnern, daß er graue Augen hatte – aus einer Zeit, aus der sie sonst aus Gründen, denen sie wohl einmal würde nachgehen müssen, so vieles vergessen hatte. Jetzt sah sie Sonja, die Schulmappe auf dem Rücken, mit ihrem wippenden Gang aus dem Gartentor gehen. Der Film lief rückwärts. Jetzt ging sie selbst mit der noch kleineren Sonja früh zusammen in Richtung S-Bahn, verabschiedete sich von ihr an der Straßenecke, sah ihr nach, wie sie allein zum Kindergarten ging. Wie ihre nackten Knie aneinanderwetzten und ihr Pferdeschwanz hin- und herschaukelte. Erinnerst du dich, sagte sie, an ein dunkelblaues Jäckchen mit einem rotkarierten Kragen? – Dunkel, sagte Sonja. Aus der Vorzeit. – Und an das Sterntalerkleid? – Schon eher. Aber ich kann die echten manchmal nicht mehr von den Fotoalbum-Erinnerungen unterscheiden. – Das geht mir auch so, sagte Ellen. Hab ich euch je erzählt, daß das Sterntalerkleid, das dir so gut gefiel und das auch so gut zu dir paßte, für mich immer mit Angstund Schuldgefühlen verknüpft bleibt? Während sie auf Sonjas himmelblaues Lieblingskleid die Goldpapiersterne aufgenäht hatte, war sie alle paar Minuten zu Jennys Gitterbettchen gelaufen, dem Baby, das an Ernährungsstörungen litt und von dem die Ärztin vorwurfsvoll, so war es Ellen erschienen, gesagt hatte, das Kind sei sehr krank. Dann hatte sie Ellen fühlen lassen, wie die Haut über der noch nicht geschlossenen Fontanelle auf Jennys Köpfchen nach innen gezogen war, aus Flüssigkeitsmangel. Dieses Gefühl war immer in Ellens Fingerspitzen geblieben, und es war eine jener Nächte gewesen, in denen sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr zu arbeiten, sich nur noch den Kindern zu widmen. Wennsie das getan hätte, glaubte sie fest, wäre Jenny niemals so krank geworden. Sie konnte zum erstenmal darüber sprechen, wie sie geweint hatte über Sonjas erstem Faschingskleid, und sie wußte, und auch die anderen wußten, daß sie an das Mitgefühl ihrer Töchter appellierte, die sich in die Zwangslage einer um zwanzig Jahre jüngeren Mutter hineindenken sollten, und ihr fiel ein, daß sie sich geschworen hatte, nie, niemals ihre Töchter durch einen Appell an ihr Mitgefühl zu erpressen, und sie brach ab. Was sie nicht sagte, aber klar erkannte: Ihr Entschluß, die Arbeit hintanzustellen, wäre, selbst wenn sie ihn strikt verwirklicht hätte, für Sonja zu spät gekommen. Vieles, was man heute weiß, sagte sie noch, haben wir damals einfach nicht gewußt. Wir haben wenig gewußt darüber, wie wichtig für ein Kind die ersten Jahre sind. Aber die Welt habt ihr verändern wollen, sagte Jenny. Ja, sagte Jan. Mehr und mehr auf Konferenzen, auf denen wir uns gegenseitig beschimpften. Wie es dazu gekommen ist, sagte er, das müßte man auch mal genauer untersuchen.
    Ellen dachte, daß Jan immer häufiger sagte, man müsse einer Sache einmal genauer nachgehen, ohne es dann wirklich zu tun. Zum erstenmal stieg vor ihr das Bild von einem Graben auf, der sich zwischen den Generationen hinzog, auch zwischen ihrer eigenen Generation und der ihrer Töchter. Es war eine flüchtige Vorstellung, die sie erschreckte und die sie schnell verscheuchte.
    Vielleicht konnte ein einzelner wirklich die Erfahrungsmuster seiner Generation nicht überspringen, dachte Sonja. Aber wenn sie einmal an die Reihe kämen – sie und ihre Freunde, mit denen sie um die gleichen Fragen stritt wie vor einem Vierteljahrhundert ihre Eltern mitihren Freunden –, sie würden alles ganz anders machen. Sie würden diese ganzen verfestigten

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