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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Strukturen noch einmal aufbrechen. Nur war eben nicht daran zu denken, daß sie an die Reihe kämen. In allen Stellen, wo man etwas entscheiden konnte, saßen die Generationsgenossen der Eltern. Schlecht, dachte Sonja, schlecht hatten die ihre Chance genutzt, als sehr junge Leute sehr wichtige Positionen zu haben. Oder vielleicht sind in jeder Generation die, die die Positionen haben, nicht die, die etwas verändern können?
    Aber jetzt wollten sie endlich schlafen gehen. Jan und Ellen absolvierten noch ihren beinah täglichen Wortwechsel über ein Buch, das Jan verächtlich »schwach« nannte, obwohl er nur darin geblättert, es gar nicht wirklich gelesen hatte, worüber Ellen sich immer noch aufregen konnte, da sie auch dieses Buch ganz las und fand, es habe seine guten Seiten. Da mußten Sonja und Jenny wieder diese mitleidigen Blicke tauschen, womit sie schon früh – sehr früh, gebt es zu! – angefangen hatten. Ob die Eltern anders miteinander umgingen, wenn sie allein waren, wenn sie nicht, um dieser Blicke willen, ein kleines bißchen Theater spielten? Jan räumte sein Bettzeug ins Nebenzimmer, denn es stand Sonja zu, heute nacht mit Ellen in einem Zimmer zu schlafen. Sie wußte nicht, ob sie es eigentlich wollte. Ellen dachte, schlank und jung wie ihre älteste Tochter sei sie nie gewesen. Sonja sah, daß nicht nur die Haltung, daß auch der Körper der Mutter alterte. Sie lagen in den übereck stehenden Betten, die Köpfe nah beisammen. Das Mondlicht fiel durch die gelblichen Vorhänge, die Nachtgeräusche des Dorfes waren mehr zu ahnen als zu hören. Diese Stille, sagte Sonja, komme ihr fast bedrohlichvor. Das sei ihr anfangs auch so gegangen, sagte Ellen. Nun lausche sie Nacht für Nacht auf diese Stille und könne nicht genug davon kriegen.
    Nach einer langen Weile, in der sie auf das geräuschvolle Treiben eines Igelpaares vor ihrem Fenster gehorcht hatten, fragte Ellen: Es lief wohl nicht so gut, zuletzt?
    Nein, sagte Sonja. Eine Patientin von mir hat sich umgebracht.
    Ellen spürte, wie ihre Kopfhaut sich zusammenzog.
    Nach einer Weile fragte Sonja, ob sie sich an die junge Frau erinnere, von der sie ihr mal erzählt habe: die kleine blonde Verkäuferin, von der sich ihr Mann getrennt hatte und der man, auf Antrag des Mannes, wegen ihrer Depressionen das Sorgerecht für ihr Kind entzogen habe. Letzten Sonntag sei sie vom vierzehnten Stock eines Hochhauses gesprungen.
    Ellen fiel nichts ein als der sinnlose Satz: Du hast keine Schuld.
    Nein, sagte Sonja. Aber ich habe mich dafür eingesetzt, daß sie diesen Wochenendurlaub bekam. Ich habe die Frau nicht gut genug gekannt.
    Wieder nach einer langen Weile fragte Ellen, ob sie es nicht für möglich halte, daß es Menschen gebe, die in jedem Fall eine Gelegenheit ergreifen würden, sich umzubringen. Früher oder später.
    Ja, sagte Sonja, sie halte das für möglich. Sie halte es für möglich, daß es Menschen gibt, denen nicht zu helfen sei. Das sei ja überhaupt das Problem. Aber davon dürfe sie in ihrer Arbeit nicht ausgehen.

17.
    Ein Jahrzehnt, das sagt man so.
    Ein Jahrzehnt.
    Reden wir noch miteinander? Erreichen unsere Stimmen uns noch? Brauchen wir es noch, daß sie uns erreichen? Steffis Stimme – haben wir sie noch im Ohr? Und Bella? Hört sie uns?
    Wir haben es nicht halten können.
    Man kann es nicht halten. Das ist die Bedingung, man hat sich auf sie eingelassen, ohne es zu wissen, und man vergißt sie, solange es eben dauert. Was denn. Was dauert. Aber das ist es ja: daß wir uns danach nicht fragten. Keinen Namen dafür suchten, das Geschenk annahmen, wie es uns gereicht wurde, es nicht zerlegen mußten. Daß es uns Lust genug war, früh im Jahr Weidenstöcke zu schneiden und sie in Eimer zu stellen, bis sie unter Wasser punktgroße helle Augen zeigten, aus denen sie bleiche fadendünne Wurzeln trieben, die wir nun in den gut gewässerten Boden einsenken konnten. Dann kann man zusehen, wie die Ruten noch im gleichen Jahr ausschlagen und schon zwei, drei Jahre später ein dichtes Gebüsch bilden, von dem Korbflechter aus der Umgebung ernten konnten. So etwas zu erleben. Solche Art Schöpfung. Die Hände erinnern sich länger daran als der Kopf. Oder wie man das zähe Wurzelgeflecht von Brennesseln unter der Erde zu fassen kriegt, wie man es lockert und vorsichtig, vorsichtig herauszuziehen beginnt. Das Gefühl im Bauch, wenn ein langer Stock dem Zug folgt, ohne abzubrechen. Oder daß die Löcher, die wir den Zaun entlang ausheben, eine

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