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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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zu
fahren, aber dann beherrschte sie sich. Schließlich war es nur ein Haus, ein
einfaches Haus in Frankreich, keine Einladung zu ihrem Vater nach Deutschland.
    Sie musste noch drei Sommer warten, bis sie achtzehn war, sie machte
den Führerschein und fuhr mit dem Auto, das ihr die Mutter geschenkt hatte.
Ohne Pause fuhr sie durch, allein bis nach Coulard.
    VOR MIR AUF DEM TISCH liegt
weder Heft noch Stift. Meine Lehrerin ermahnt mich. Sie spricht ein paar Mal
mit mir, und als ich in der folgenden Woche meine Sachen wieder nicht
mitgebracht habe, muss ich vor die Tür und spaziere durch den Flur, immer hin
und her. Ich presse mein Ohr an die Türen der anderen Schulzimmer, verstehe
aber kaum etwas von dem, was gesprochen wird. Am Ende der Stunde darf ich
zurück in meine Klasse.
    Ich fische die Briefe von der Schule aus dem Briefkasten,
ich weiß, was in ihnen steht. Ich lege sie meiner Mutter auf den Küchentisch
neben das Kochbuch, das ihr Freund für sie gekauft hat, »Mama-Kind-Essen« steht
auf dem pinkfarbenen Cover. Wenn meine Mutter in der Küche etwas kocht, das gut
für sie und ihren Bauch ist, kann sie ihn nicht übersehen. Ich warte darauf,
dass sie in mein Zimmer kommt und mich ermahnt, auf sie zu hören und Rücksicht
zu nehmen, schließlich erwarte sie ein Kind. Am nächsten Tag finde ich die
ungeöffneten Briefe zwischen der Reklame im Altpapier.
    JULIE BRAUCHT NOCH EINIGE Tage, um gesund zu werden. Ich rufe Camille an. Wenig später steht sie vor der
Tür, in ihren Augen der Blick einer Frau, die nicht lange diskutiert. Sie
drückt mir einen Medizinkoffer in die Hände. Ich solle das Fieberthermometer
rausholen, sagt sie und lässt die Kofferschnallen aufschnappen. Aus dem Auto
holt sie eine Daunendecke.
    Camille schiebt Julie das Fieberthermometer in den Mund und redet
schnell auf sie ein. Sie habe zu hohes Fieber, als dass sie sich jetzt hier mit
dem, was gewesen sei, auseinandersetzen könne, sagt Camille, in ihrer Stimme
schwingt etwas Zärtliches mit, etwas, das ich schon lange nicht mehr gehört
habe. Camille hält Geschirrtücher unter warmes Wasser, faltet sie zu schmalen
Streifen und legt sie Julie auf die Stirn.
    Â»Für die Kranken gibt es Suppe«, sagt Camille. Sie steht
hinter dem Herd wie hinter ihrem Tresen in der Bar und wärmt eine Suppe auf.
Sie verteilt die Suppe in Schüsseln, reißt das mitgebrachte Baguette in Stücke.
    Nach dem Essen steht Camille vor dem Haus und raucht ihre Zigarette.
Sie starrt Löcher in die Luft, ihr Blick bleibt am Apfelbaum hängen, an Jans
Haus. Ich frage mich, was damals war zwischen ihr und meinem Vater, den sie
Frank nennt, ob es auch eine Geschichte zwischen ihnen gab, die sie mir
verschweigt.
    Manchmal ruht Camilles Blick auf Julie, die auf der Matratze unter
der dicken Decke sitzt. Sie liest in den Büchern, die ich ihr gekauft habe, sie
dreht am Rad des Transistorradios, auf der Suche nach der richtigen Frequenz.
Manchmal ruht ihr Blick auf mir. Ich sitze am Tisch, skizziere den Grundriss
des Hauses. Immer wieder beuge ich mich über den Plan, gehe hinaus in den
Garten und schaue mir alles ganz genau an, sammle Ideen.
    Ich denke daran, auszuwandern, einfach hierzubleiben und meine
kleine Wohnung zu kündigen, ein Umzugsunternehmen zu beauftragen und meine
Möbel und Bücher einzulagern, auf unbestimmte Dauer in einen Container zu
sperren.
    Camille verabschiedet sich von uns und verlässt das Haus. Der Raum
verliert an Wärme, ich hoffe, dass sie bald wiederkommt.
    MANCHE SCHÜLER RETTEN DIE Regenwürmer, die sich auf den asphaltierten Weg zum Schulgebäude verirren. Sie
halten sie zwischen Zeigefinger und Daumen und tragen sie zur Wiese oder zu
einem Baum, legen sie auf die Erde. Ich mag keine Regenwürmer, ich kicke sie
vom Boden weg, sie fliegen nur schlecht und kommen gleich wieder auf. Wenn sie
ein zweites Mal versuchen, vor mir über den Boden zu kriechen, zertrete ich sie
und säubere meine Schuhsohle, streife sie im Gras ab. Auf dem Schulhof hätten sie
sowieso keine Chance.
    ICH BLICKE DURCH DAS FENSTER der Bar du Matin, ich sehe Camille, die im warmen Licht hinter dem Tresen
steht. Die samtenen, roten Polster der Stühle nehmen das Licht auf und
verbreiten eine Stimmung, in der man sitzen und warten will, bis die Ruhe des
Lichts in einem selbst ankommt. Ich denke an das Rätsel, das Camille für mich
gelöst und das sie mir

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