Sommertochter
der
Hand die Raufasertapete entlang. »Lass uns neu anfangen«, sagt meine Mutter,
»ich habe alles vorbereitet.«
ES IST EIN TAG im Juli, als
ich den muschelweiÃen Umschlag in meinem Briefkasten finde.
Ich fahre mit meinem Fahrrad durch die Hitze, die flirrend auf den
Kreuzungen steht. Der Schweià sammelt sich in meinen Haaren und läuft den
Rücken hinunter. Die Schüler ziehen Richtung Freibad und vor den Eiscafés
drängen sich Anzugträger und Studenten. Ich fahre mit meinem Fahrrad durch die
Stadt, ohne wie sonst auf Autos aufpassen oder den FuÃgängern ausweichen zu
müssen. Ich denke darüber nach, mir einen Ventilator zu kaufen, aber
Ventilatoren sind in den Kaufhäusern bestimmt schon seit Tagen ausverkauft. Ich
fahre nach Hause, um zu duschen, die Kleider zu wechseln und die Blumen im
schattigen Teil meiner Wohnung zu gieÃen.
Ich bin froh über die Kühle, die mich zwischen den gefliesten Wänden
im Hausflur empfängt. Ich öffne den Briefkasten. Eigentlich bekomme ich nur
dann Post, wenn ich etwas im Internet bestelle, das ich sonst in keinem Laden
der Stadt bekomme. Als ich den Umschlag mit der französischen Briefmarke sehe,
denke ich, der Postbote habe sich wieder einmal vertan und einen Brief für die
Nachbarin bei mir eingeworfen. Doch ich lese meinen Namen, ich drehe und wende
den Umschlag, finde keinen Absender, nur meine Adresse, meinen Namen, mit Tinte
geschrieben auf muschelweiÃes Papier. Ich schaue nur auf den Brief in meinen
Händen, als ich die Treppe nach oben nehme, fast stoÃe ich mit der Nachbarin
zusammen.
Â
»Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer«, so
beginnt der Brief, geschwungene Buchstaben, kaum eine Seite lang. AuÃerdem
liegt ein Polaroidfoto im Umschlag, es zeigt ein weiÃes Fischerhaus mit
Fensterläden aus braunem Holz und einem roten Dach, davor steht ein Apfelbaum.
Am weiÃen Bildrand ist eine französische Adresse notiert und der Name des
Dorfs: Coulard.
Ich ziehe die Vorhänge zu und setze mich an den Küchentisch, als
hätte ich Angst, dass mich jemand dabei beobachten könnte, wie ich von einem
Geheimnis erfahre, in das nur ich eingeweiht werden soll.
Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen
vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben
und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören. So ein leerstehendes Haus
mache sich im Ort nicht gut, der Lack von den Fensterläden blättere ab, alles
verwittere. Die Zeilen sind nicht unterschrieben.
Ich kenne den Ort nicht, an dem das Haus stehen soll. Ich schalte
den Computer ein und suche im Internet nach der Adresse. Das Satellitenbild
zeigt ein paar StraÃen und Häuser an einer blauen Küste. Das Meer dringt ins
Land ein, mündet in ein Becken und wird zu einem Fluss. In einer Bucht etwas
abseits liegen Boote, klein und weiÃ, weiter im Landesinneren Felder und grüne
Flächen. Ich versuche zu zoomen, das Haus ganz nah heranzuholen, aber je näher
ich dem Ort komme, desto unschärfer wird alles.
Ich weià nichts von einem Haus, und ich kenne von Frankreich kaum
mehr als die Sprache und das, was ich in der Schule gelernt habe. Ich lese den
Brief wieder und wieder, lese die Worte laut. Ein Polaroid, denke ich, nur Nostalgiker
fotografieren noch mit einer Sofortbildkamera.
Nachts liege ich wach im Bett, ich finde keinen Schlaf. In den
Häusern gegenüber brennt noch vereinzelt Licht. Die Digitalanzeige des
Radioweckers zeigt rot leuchtend 3:17 Uhr an. Ich stehe auf und gehe ins
Badezimmer. Ich lasse kaltes Wasser in die Wanne und steige hinein, ich tauche
so lange unter, bis ich keine Luft mehr habe und mich japsend wieder aufrichte.
Ich wickle mir ein Handtuch um und setze mich mit nassen Haaren auf den Balkon,
zünde eine Kerze an. Die Hitze vom vergangenen Tag liegt noch immer zwischen
den Häusern. Im Schein der Kerze sieht das Haus auf dem Polaroid aus wie aus einem
Märchen.
SCHON LANGE BEVOR mein Vater
vier Monate in einer Klinik verbrachte, haben wir aufgehört, zusammen zu Abend
zu essen. Heute, an dem Tag, an dem er mit unserem Kombi durch das Tor fuhr,
ist zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder der runde Tisch in der Küche
für uns drei gedeckt, mit Stoffservietten und den groÃen Kerzenständern. Meine
Mutter hat sich die Kirschsaftschlieren von den Knöcheln gewaschen. Ihr Blick
wandert
Weitere Kostenlose Bücher