Sommertochter
den
Weizenstoppeln stecken. Ich renne hin und ziehe ihn heraus.
Es ist Wochenende und mein Vater ist wieder auf Geschäftsreise,
irgendwo in Lyon, Montpellier, Bordeaux oder Nantes, meine Mutter kann sich die
Namen nicht merken. Wenn ich sie frage, wo mein Vater diesmal ist, zählt sie
die groÃen französischen Städte auf.
Am Spätnachmittag wird er mit dem Zug zurückkommen, diesmal hat er
ein Ticket gekauft, auch wenn er lieber den Kombi nimmt, aber der Arzt hat
gesagt, er müsse sich erstmal an die neuen Tabletten gewöhnen. Bis sein Zug am
Hauptbahnhof hält, schicken meine Mutter und ich abwechselnd den Drachen in den
Himmel und hören das scharfe Summen, das die straff gezurrte Leine im Wind
macht.
Meine Mutter erzählt mir, wie es damals war, als mein Vater den
Anruf von einem Nachlassgericht bekam und erfuhr, dass er geerbt habe, von
seinem GroÃonkel oder seiner GroÃtante, ganz genau verstand er es selbst nicht.
Plötzlich hatte er sehr viel Geld auf dem Konto. »Lass uns ein Haus am
Stadtrand kaufen«, sagte er, »mit Garten und Blick auf die Felder und Wiesen.«
Meine Mutter schaut mich an, den Drachen in der Hand, sie hätten niemanden nach
einer Meinung dazu gefragt und das Haus bar bezahlt. Sie zählten auf der
Terrasse die groÃen Scheine ab und drückten sie dem Verkäufer in die Hand.
Meine Mutter malt mit dem Drachen Achter in den Himmel, ich feuere
sie an und springe um sie herum. Der Drachen stürzt in einen Kastanienbaum am
Rande des Feldes, sein bunter Schweif in den Blättern wie eine Girlande.
DAS MÃDCHEN MUSTERT MICH ,
ich bin der einzige Gast. Ich strecke ihr das Geschirrtuch entgegen, doch sie
nimmt es nicht, ich lege es auf den Tresen. Lampen wie gläserne Kelche hängen
an der holzvertäfelten Wand. Bis ich mich auf einen der samtenen Stühle gesetzt
habe, fixiert mich das Mädchen, als habe sie den Verdacht, ich wolle etwas
mitgehen lassen, als würde ich mich im nächsten Moment umdrehen, eine Spraydose
aus der Tasche nehmen und die Wand mit einer Parole bemalen. Hinter dem Tresen
senkt sie ihre Arme tief ins Spülwasser. Ich nehme die Speisekarte von einem
anderen Tisch, »Moules
Frites, sâil vous plaît«,
sage ich laut in ihre Richtung. Sie antwortet nicht, ruft nur etwas in die
Küche hinter der Schwingtür, die auch die Eingangstür zu einem Saloon sein
könnte.
Die Bar du Matin ist eine richtige Bar, keine Touristenkneipe
mit überhöhten Preisen. Auf der Speisekarte stehen die Standard-Drinks, ein
paar Gerichte und Kaffee. Die Einrichtung ist schon viele Jahre alt, das Holz
hat Risse und Löcher, abgesprungener Lack, trotzdem wirkt alles sehr liebevoll
und gepflegt.
Der Atlas, in dem auch Coulard und ein paar umliegende
andere Dörfer abgebildet sind, liegt vor mir auf dem Tisch, mit den Fingern
fahre ich den Weg von der Bar zum Haus nach. Es steht am Rande des Dorfes, nur
wenige Minuten mit dem Auto, schätze ich, zu Fuà vielleicht eine Viertelstunde.
Das Mädchen schüttelt den Schaum von seinen Unterarmen und tritt mit dem
rechten Fuà die Tür zur Küche auf. Wenig später kehrt sie zurück, balanciert
zwei Teller auf ihrem linken Arm. Mit nassen Händen serviert sie mir die
bestellten Moules
Frites . Sie beugt sich vor, ein goldenes Medaillon an einer
feingliedrigen Kette baumelt vor meinem Gesicht, es ist ein Medaillon, wie es
meine Mutter früher trug, man konnte es aufklappen und Bilder hineinstecken,
auf jede Seite eins, aber klein mussten die Bilder sein, sehr klein, wie für
ein Puppenhaus. Manchmal fragte ich meine Mutter, warum kein Bild darin sei,
warum sie nicht eins von meinem Vater hineinlege, oder eins von mir. Weil sie
keins habe, sagte sie dann, so kleine Bilder gebe es heutzutage gar nicht mehr,
das ginge einfach nicht.
Ohne ein Wort stellt das Mädchen die Teller auf den Atlas. Drei
heruntergefallene Pommes hinterlassen Fettflecken auf der DorfstraÃe und dem
Kreuz, das ich eingezeichnet habe.
Ich lege ein paar Münzen auf den Tresen. Das Mädchen sieht
aus, als wolle sie mich verscheuchen wie den Vogel. Ich zeige ihr den Atlas und
tippe mit dem Finger auf das Kreuz, dorthin, wo das Haus ungefähr stehen
müsste. Ich versuche es mit Englisch und frage, ob sie es kennt. Sie schüttelt
den Kopf. Es scheppert blechern, als sie das Geld in die Kasse wirft. Ich
probiere es mit dem Polaroid. »Connaissez?«,
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