Meine Welt hinter den Sternen - Vestin, A: Meine Welt hinter den Sternen
Leben
Draußen regnete es in Strömen. Ich saß vor meinen Hausaufgaben, als eine alte, raue Stimme die Treppe heraufrief: „Tara, komm sofort runter!“ Ich blickte von meinen Aufgaben auf und erhob mich langsam von meinem Sessel. „Was habe ich denn jetzt schon wieder vergessen?“, fragte ich mich, seufzte und trottete langsam die Treppe herunter. Meine Großmutter sah verärgert aus. Ihr langes, -mausgraues Haar war, wie immer, zu einem festen Knoten zusammengebunden. Ihr Rock hing unglücklich an ihrer etwas stärkeren Figur herunter, die Bluse war unordentlich in den Bund hineingestopft worden. Großmutter kam für ihr Alter noch relativ gut allein zurecht. Trotzdem benutzte sie mich meist nur als Haushaltshilfe, hin und wieder sogar bis in die späte Nacht hinein. Oh ja, sie liebte es, mich herumzukommandieren. Mich, ihre einzige Enkeltochter.
„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte Großmutter und durchbohrte mich mit ihrem eiskalten Blick. Ich zuckte nur die Achseln. „Offensichtlich bist du der Meinung, dass sich die Geschirrspülmaschine von allein ausräumt“, fügte sie noch hinzu und stolzierte mit einem zufriedenen Lächeln zurück ins Wohnzimmer. Diesmal hatte ich wirklich Glück gehabt. Normalerweise bekam ich immer Ärger wegen solcher Nebensächlichkeiten. Warum musste eigentlich immer ich die Spülmaschine ausräumen? Sie hatte doch genauso gut Hände, die arbeiten konnten. Mürrisch trottete ich in die Küche, wo die Spülmaschine auch schon auf mich wartete.
Die Küche war ein kleiner Raum mit einem Tisch am Fenster. Dort aß ich oft allein zu Mittag, wenn meine Großeltern wieder einmal nicht zu Hause waren. Oh nein, ein Zuhause konnte ich dieses verhasste Haus nicht nennen. Seit meinem neunten Lebensjahr lebte ich bei meinen Großeltern. Wir wohnten in einem mittelgroßen Haus, am Rande der Stadt München. Es ist eine schöne Stadt, zu gern möchte ich manchmal einfach nur in ihr herumlaufen und mir alle Geschäfte genau ansehen. Aber dafür hatte ich bis jetzt keine Zeit. Mein Leben bestand aus Schule und zu Hause mithelfen. Etwas anderes gab es für mich nicht.
Meine Eltern kannte ich nicht. Ich hatte kein Foto von ihnen, nur den Teddybär meines Vaters. Er ist die einzige Erinnerung an sie. Oft tröstete er mich, wenn meine Großmutter mit mir schimpfte. Manchmal kam es mir vor, als könne mein Bär lächeln und weinen, er fühlte einfach mit mir. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich selbst litt an einer retrograden Amnesie, ich konnte mich also an nichts aus meinem früheren Leben erinnern. Ich wusste nicht einmal, wie meine Eltern aussahen, wem ich ähnlich sah und wo wir früher wohnten. Nichts. Leere in meinem Gehirn. Mein richtiges Leben begann also erst nach dem tragischen Unfall. Meine Großeltern sprachen weder über das Unglück noch über meine Eltern. Sie versuchten, mit der Vergangenheit abzuschließen, sie zu vergessen, aber ich wusste, dass es ihnen sehr schwerfiel. Und ich wusste auch, warum sie mich so anders behandelten: weil ich überlebt hatte und meine Eltern nicht. Weil ihr Sohn bei dem Unfall ums Leben gekommen war.
Endlich hatte ich es geschafft, die Maschine auszuräumen. Ich beschloss, ins Wohnzimmer zu gehen, um dort vielleicht etwas fernzusehen. Das Wohnzimmer war ein geräumiges Zimmer mit einer wunderschönen cremefarbenen Couch in der Ecke. Es gab einen großen Fernseher und mehrere Bücherregale. Es war mit Abstand mein Lieblingszimmer. Hier fühlte ich mich geborgen, obwohl ich nicht einmal wusste, warum. In der Ecke stand eine hohe Standuhr, die zu jeder vollen Stunde klingelte. Früher hatte ich mich immer davor erschreckt, heute konnte ich nur darüber lächeln.
Überall an der Wand hingen Sternkarten. Mein Großvater liebte die Sterne. Oft, wenn es eine klare Nacht gab, ging er hinaus und beobachtete sie, meistens stundenlang. Ich fand die Sterne auch wunderschön, dies musste ich wohl von ihm geerbt haben. Ich sah sie mir jeden Abend vor dem Schlafengehen an und stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn man dort oben sein würde …
Mein Großvater saß auf der Couch und sah fern, als ich das Zimmer betrat. Er hatte schneeweißes Haar und einen Schnauzer. Manchmal dachte ich mir, er sei ein typischer Engländer mit den vielen Westen, die er trug. Großvater war sehr in sich zurückgezogen, ebenso wie ich.
Ich setzte mich neben ihn auf die Couch und schaute gebannt in das schwarze, flimmernde Gerät. Er hatte die
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