Sommerzeit
weißen Lieferwagen, der mit »Slite Bygg« und einer Telefonnummer beschriftet war.
Das reichte.
A ls Karin zu Bewusstsein kam, war um sie herum alles still. Kein Motorengeräusch war zu hören. Sie saß in einer scheußlich unbequemen Stellung. Nach vorn gebeugt, mit gekrümmtem Rücken, den Kopf zwischen die Beine gesteckt. Ihr Mund brannte, er war mit Klebeband verschlossen. Handgelenke und Knöchel pochten vor Schmerz, sie war stramm gefesselt. Die Dunkelheit in dem kleinen Verschlag war kompakt. Ihr tat alles weh. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen und Blutgeschmack im Mund. Offenbar hatte er brutal zugeschlagen. Erst nach einer Weile konnte sie sich überhaupt bewegen. Es war fast unmöglich. Sie steckte fest wie in einem Schraubstock.
Ganz ruhig jetzt, dachte sie. Kaltes Blut bewahren. Du musst einen Weg finden, um dich zu befreien.
Sie fragte sich, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seit sie niedergeschlagen worden war. Einige Minuten, eine halbe Stunde, mehrere Stunden?
Sie gab sich alle Mühe, um in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Konnte den Kopf so weit heben, dass er sich aufrecht befand. Die Kopfschmerzen nahmen die Ausmaße von Migräne an und waren fast nicht zu ertragen. Sie betastete mit einem Ellbogen die Wand. Deren Oberfläche
kam ihr hart und glatt vor. Sie ahnte, dass sie sich noch immer auf dem Schiff befand, aber die Stille war so überwältigend, dass die Fahrgäste wohl schon von Bord gegangen waren und sie im Hafen von Fårösund lagen. Wie lange mochte das Schiff wohl am Kai liegen – vierundzwanzig Stunden vielleicht? Wie lange würde es dauern, bis Knutas sich fragte, warum sie nichts von sich hören ließ, und bis er und die anderen begriffen, dass ihr etwas zugestoßen sein musste?
Wer war Kapitän Stefan Norrström, und was hatte er mit der ganzen Sache zu tun? Warum hatte er sie niedergeschlagen und dann hier eingesperrt? Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, ohne irgendwo Halt zu finden.
Karin versuchte verzweifelt, ihre gefesselten Arme und Beine zu bewegen. Das Seil schien felsenfest zu sitzen. Ein Kapitän kannte sich mit Knoten natürlich aus. Es schien ihr unmöglich, sich loszureißen. Sie versuchte, ihren Körper zu bewegen. Auf einer Seite war ein wenig Platz, und sie versuchte, gegen die Wand zu hämmern, aber es war kaum etwas zu hören.
Zu allem Überfluss musste sie dringend pinkeln.
Sie horchte auf Geräusche. Es war unmöglich zu erraten, wo auf dem Schiff sie sich befand.
Dann hörte sie plötzlich ein Dröhnen auf der anderen Seite der Wand. Die Tür wurde geöffnet, und das grelle Licht blendete sie. Da stand er, genau vor ihr. Er starrte sie zwei Sekunden lang an, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Sie hörte, wie draußen der Riegel vorgeschoben wurde.
Wollte er sie nicht einmal zur Toilette gehen lassen? Ihr nichts zu trinken geben? Sie fühlte sich nach der langen
Wanderung durch die gleißende Sonne von Gotska Sandön total ausgedörrt. Sie hatte es auf dem Rückweg zum Lager so eilig gehabt, dass sie nicht einmal ihre Wasserflasche aufgefüllt hatte. Sie hatte seit ewiger Zeit nichts mehr getrunken und erst recht nichts gegessen. Ihr Kopf war schwer, und sie war wie benommen. Würde er sie hier sterben lassen? Sie versuchte, ihre Fesseln zu lösen, ihre Finger, Hände und Füße zu bewegen, aber nichts half.
Lange, nachdem die Tür zugeschlagen worden war, horchte sie immer noch auf Geräusche. Es gab keine. Alles war vollkommen still. Vor Durst und Benommenheit war ihr schwindlig, und ihr Körper war überall taub. Sie kniff die Augen zusammen.
K nutas und Kihlgård übernahmen die Führung, dicht gefolgt von den übrigen Streifenwagen jagten sie nach Norden in Richtung Kyllaj. Kihlgård hatte noch schnell eine Akte über die bisherigen Ermittlungen in Tanja Petrovs Tod einstecken können.
»Erzähl alles, was du weißt«, befahl Knutas verbissen und konzentrierte sich auf die Straße.
»Etwa eine Woche nach dem Mord an Tanja kehrte die Familie nach Hamburg zurück«, begann Kihlgård. »Vera brach ihr Sprachenstudium an der Uni ab und arbeitete in einem Lebensmittelladen. Die Eltern, Sabine und Oleg Petrov, wurden krankgeschrieben. Im Herbst, genauer am 22. Oktober 1985, brachte Oleg sich um. Er warf sich vor einen Expresszug, der unterwegs zum Hamburger Hauptbahnhof war. Er war sofort tot.«
»Himmel, was für ein Ende.«
»Der Mutter ging es offenbar auch nicht viel besser. Sie wurde tablettenabhängig und kehrte nie wieder
Weitere Kostenlose Bücher