Sommerzeit
Eltern an den Rand gedrängt und mit ihrer Schwester verglichen worden. Nie hatte sie das Gefühl gehabt, gut genug zu sein, gut genug, so wie sie war. Kein einziges Mal hatte sie wirklich Geborgenheit erlebt. Das Gefühl, ganz sicher zu sein, egal, wie sie aussah, was sie tat oder was um sie herum passierte. Stefan liebte sie so, wie noch niemand sie geliebt hatte. Noch immer spürte sie ihre Wunden, mit denen sie für den Rest ihres Lebens leben musste. Dass er alles wusste und sich am allerschlimmsten sogar beteiligt hatte, half ihr sehr. Er sah sie und verstand. Er und sonst niemand.
Die Tritte ließen nach, und sie kaufte weiter ein. Nahm einige Bier für Stefan aus dem Regal, sie selbst trank nur Mineralwasser.
Vor beiden Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet. Freitagnachmittag, da kauften alle ein. Sie stellte sich bei einer an. Ließ ihre Blicke zerstreut über die Menschen gleiten, die brav neben vollen Körben und Wagen warteten. Einige unterhielten sich miteinander, hier und da lachte jemand. Viele hier kannten einander. Slite war nicht groß.
Sie hatte noch keine Freundschaften geschlossen, verspürte danach aber auch kein direktes Bedürfnis. Sie trafen sich ab und zu mit Stefans Verwandten und seinen Bekannten, und das, zusammen mit den Teilnehmern aus ihrem Schwedischkurs und den Besuchen bei der Schwangerenbetreuung, reichte absolut.
Plötzlich sah sie einen Mann in der Schlange, den sie zu kennen glaubte. Er unterhielt sich mit einem Jungen, der nicht älter als fünf, sechs Jahre alt sein konnte. Ihr Blick blieb an diesem Mann haften, schärfte sich. Wanderte über sein Gesicht, verglich.
Der Mann war sicher ein wenig älter aus als sie und hatte ein ganz besonderes Aussehen. Seine Stirn war hoch und vorgewölbt, die Augen waren hell, und er schien weder Wimpern noch Augenbrauen zu haben. Er hatte einen leichten Unterbiss. Er trug kurz geschorene Haare und einen Handwerkeroverall. Er wirkte verspannt, ein wenig nervös. Das lag vielleicht an den hartnäckigen Fragen des Kindes, vielleicht auch an etwas anderem.
Er stand einige Meter vor ihr in der Schlange vor der anderen Kasse, aber sie sah ihn deutlich, da er sich umdrehte und mit dem Kind redete, das sie für seinen Sohn hielt. Plötzlich schaute er auf, und sie wandte ihren Blick ab. Sicher hatte er bemerkt, dass sie ihn anstarrte, glaubte vielleicht, sie wolle flirten.
Sie musste ihn wieder anschauen. Er blickte zu ihre herüber, während er eine Frage seines Sohnes beantwortete. Als ihre Blicke sich begegneten und sie seine Stimme hörte, erstarrte sie zu Eis. Diese helle, ein wenig näselnde Stimme hatte sie schon einmal gehört. Vor langer, langer Zeit. In einem ganz anderen Zusammenhang.
Wie einen Peitschenhieb spürte sie einen brennenden Schlag über der Stirn. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Er stand noch immer da und unterhielt sich weiter mit seinem Sohn. Schaute zu ihr herüber und lächelte ein wenig. Er hatte sie nicht erkannt. Was ja auch kein Wunder war. Durchaus kein Wunder. Sie hatten sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte sich mehr verändert als er.
Ihr wurde schlecht, ihr war schwindlig, und sie war wacklig auf den Beinen. Konnte nicht mehr hier stehen bleiben. Sie musste hinaus, verließ die Schlange und drängte sich mühsam an der Kasse vorbei. Vor dem Laden ließ sie sich auf eine Bank sinken. Die Tränen brannten hinter ihren Augenlidern, sie gab sich alle Mühe, sie zurückzuhalten. Sie atmete schwer, stoßweise. Der heftige Druck auf ihrer Brust machte ihr Angst, sie hatte das Gefühl, sterben zu müssen. Sie hyperventilierte.
Eine jüngere Frau kam zu ihr und fragte, was los sei. Sie rang sich die Antwort ab, es sei nicht so schlimm. Die Frau holte Wasser und wollte wissen, ob das die Wehen seien. Ob sie einen Krankenwagen holen solle.
Nein, Wehen seien das nicht. Sie brauche nur einen Moment Ruhe. Die Frau setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Was für eine Fürsorge!
In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Er war es. Da gab es keinen Zweifel. Was machte er hier?
Das Atmen fiel ihr noch immer schwer, und sie war froh darüber, dass die fremde Frau einfach neben ihr saß. Stumm, ohne Fragen zu stellen.
Dann öffneten sich plötzlich die Türen des Supermarktes, und er kam heraus. Er sah sie nicht, er ging vorbei, mit seinem Sohn und seinen Einkaufstüten. Mithilfe
der Frau neben ihr richtete sie sich auf und schaute hinter ihm her. Er ging zu einem
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