Sommerzeit
ausrufen?«
Der Kapitän zögerte.
»Ist das wirklich nötig?«
»Ich glaube schon. Sicherheitshalber.«
Noch einmal rief der Kapitän Karins Namen aus. Als abermals zwei Minuten verstrichen waren, gab Knutas auf.
»Sie hat es wohl doch nicht mehr geschafft.«
»Nein, das wohl nicht.«
»Danke für Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache.«
Bei diesem Gespräch war Knutas’ Unruhe gewachsen. Karin hatte eine Verbindung zwischen dem Mord auf Gotska Sandön und dem aktuellen Fall gefunden. Und jetzt war sie verschwunden. Er bat die Zentrale, ihn mit dem Aufseher auf Gotska Sandön zu verbinden, und erklärte dem dann sein Problem.
»Sie ist mit dem Boot um halb drei gefahren. Sie hatte es offenbar ungeheuer eilig.«
»Sind Sie sicher, dass sie die Fähre erreicht hat?«
»Absolut. Ich war selbst unten und hab beim Beladen geholfen. Ich habe gesehen, wie sie an Bord gegangen ist.«
»Und Sie sind wirklich ganz sicher? Ich meine, wissen Sie, wie Karin aussieht? Klein, schmal, knapp vierzig, sieht aber jünger aus, kurze dunkle Haare, braune Augen, eine breite Lücke zwischen den Vorderzähnen, sehr hübsch …«
Er hörte, wie der Aufseher ungeduldig seufzte.
»Ja, natürlich weiß ich, wer sie ist. Sie hat mich gestern nach diesem Morgan Larsson ausgefragt, dem, der ermordet worden ist.«
»Ja, dann… Wann trifft das Schiff in Fårösund ein?«
»Um halb fünf. Die Überfahrt dauert zwei Stunden.«
Knutas hatte gerade aufgelegt, als die Zentrale sich wieder meldet. Die Kollegen aus Hamburg riefen an. Knutas verdrängte seine Sorge um Karin.
Die anderen hörten aufmerksam seinem holprigen Englisch zu. Knutas’ Miene war unergründlich, als er langsam den Hörer auflegte.
»Das waren unsere deutschen Kollegen. Oleg Petrov kann nicht der Täter sein. Er ist nämlich tot. Drei Monate nach dem Mord an Tanja hat er sich vor einen Zug geworfen.«
Alle im Zimmer wechselten verwirrte Blicke.
»Aber die Mutter und die Schwester, was ist aus denen geworden und wo sind sie jetzt?«, fragte Wittberg.
»Die Mutter wohnt noch immer in Hamburg, aber jetzt haltet euch fest – die Schwester Vera wohnt hier auf Gotland. Sie ist mit einem Gotländer verheiratet und lebt in Kyllaj.«
»Kyllaj«, wiederholte Wittberg und starrte vor sich hin. »Die Frau auf der Fähre, auf der ersten Morgenfähre am Mordtag. Die wohnt in Kyllaj. Sie ist schwanger und verheiratet. Aber sie hatte ein Alibi – deshalb haben wir ihr nicht weiter auf den Zahn gefühlt. Das Alibi hatte sie von ihrem Mann.«
Knutas beugt sich vor.
»Ihr Mann, ja – sie ist mit einem Mann namens Stefan Norrström verheiratet. Dem Kapitän, mit dem ich eben noch gesprochen habe.«
Knutas’ Herz hämmerte wie besessen. Dem Kapitän, der behauptet hatte, Karin sei nicht an Bord.
E s war an dem Tag Anfang Juni gewesen, an dem sie zum ICA-Supermarkt gefahren war, da hatte alles angefangen. Es war ein warmer, schöner Tag gewesen, der den herannahenden Sommer ankündigte. Sie war nach Slite gefahren und hatte wie immer beim ICA gehalten. Hatte sich einen Einkaufswagen geholt und mit ihrer Runde begonnen.
Sie wollten an diesem Abend grillen, witzigerweise aß sie gut gewürztes Fleisch jetzt in ihrer Schwangerschaft besonders gern. Sie suchte einige dicke Kartoffeln zum Backen aus, sie wollte sie mit ihrer ganz besonderen Kräuterbutter füllen, die Stefan so gut schmeckte. An der Gemüsetheke hielt sie sich sehr lange auf und wählte Paprika, Tomaten und frische Champignons aus. Sie würde die Steaks grillen und dazu Gemüsespieße servieren. Sie packte auch einige Maiskolben ein. Plötzlich verspürte sie einen Tritt und dann noch einen. Sie blieb stehen. Sie liebte dieses Gefühl, dass das Kind in ihr lebte. Sie ruhte sich auf den Einkaufswagen gestützt ein wenig aus und fuhr sich langsam mit einer Hand über den Bauch. Konnte nicht fassen, dass sie jetzt wirklich Mutter werden würde. Dass es endlich so aussah, als ob ihr Leben in Ordnung
käme. So oft hatte sie gezweifelt. Aber Stefan hatte sie immer wieder überzeugen können. Natürlich würden sie zusammenbleiben. Das müsse sie doch verstehen. Es hätte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren, sagte er. Keinen Sinn.
Und endlich hatte sie gewagt, ihm zu glauben. Wirklich zu glauben. Aus tiefstem Herzen. Verdutzt sah sie ein, dass sie sich jetzt endlich geborgen fühlte. Von außen gesehen hatte sie eine stabile Kindheit gehabt. Aber innen war sie voller Schmerz und Unsicherheit gewesen. Sie war von ihren
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