Somnambul Eliza (German Edition)
Söhnen und ein älteres, sicherlich
bereits pensioniertes Ehepaar, bei dem sowohl der Mann als auch die Frau je ein
eigenes Exemplar des Prestel -Museumsführers in der
Hand hielt, selbstverständlich jeweils bereits vollgestopft mit kleinen
Markierungszetteln, gehörten garantiert der Spezies der Pädagogen an. Hinzu
kamen zwei vornehm wirkende alte Damen, die ihre Männer wahrscheinlich bereits
überlebt hatten und nun die Art von Reisen unternahmen, zu denen sie in ihren
Ehen nicht die Gelegenheit gehabt hatten. Eliza begrüßte ihre kleine Gruppe und
schenkte ihr ein verbindliches Lächeln. Sie holte gerade tief Luft, um mit der
Einführung zu beginnen, als eine kräftige Männerstimme „Moment!“ brüllte, als
wollte sie ein startbereites Flugzeug aufhalten. Es handelte sich um ein
offenbar neureiches Pärchen, das sich der Gruppe atemlos näherte. Sie trug die
Haare Wasserstoff-blondiert und dazu ein knappes Versace-Ensemble. Er hatte ein
Sakko zum T-Shirt mit buntem Aufdruck gewählt. Die beiden wirkten wie
amerikanische Touristen, aber ihre Sprache ließ keinen Zweifel an ihrer
österreichischen Heimat. Eliza setzte ein zweites Mal an, sagte ein paar
einleitende Worte zur Architektur des Ausstellungsgebäudes und zur Sammlung und
begab sich dann mit der Gruppe in das vierte Stockwerk, wo man die aktuelle
Schau Wien 1900 untergebracht hatte.
Im ersten Saal erläuterte Eliza die
Ursprünge der Sezession im Stimmungsimpressionismus und Historismus des
ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die beiden unruhigen Kinder schickte sie auf die
Suche nach den Bildern, die nicht hier her gehörten . Doch schon
unmittelbar darauf hatten sie die Flower -Power-Plakate,
die aufgrund ihrer floralen, an den Jugendstil erinnernden Optik hier
angebracht worden waren, entdeckt und machten nun um so lautstärker auf ihren
Fund aufmerksam.
Eliza wanderte weiter in den Saal, der
sich mit Koloman Moser beschäftigte und von dort zu Gustav Klimt. Endlich
schien sich auch die Wasserstoffblondine für etwas in dieser Ausstellung
erwärmen zu können – die bunten Farben und das Plattgold in Klimts Bildern
hatten es ihr angetan. „Wahnsinn“ wiederholte sie nun unaufhörlich wie eine
Platte, die einen Sprung hatte, nach jedem Satz, den Eliza über Klimt und seine
Bilder sagte. Dabei dehnte sie dieses Wort, dessen Aussprache ihr offenbar so
viel Freude machte, bedeutungsvoll in seine beiden Silbenbestandteile Wahn-sinn ,
wobei die Betonung auf einem sehr langen Wahn lag. Offenbar glaubte sie,
ihre besondere Begabung für die Intonation dieses Wortes, mache sie zur
unbestreitbaren Kunstkennerin.
Eliza wandte sich dem Hauptwerk in
diesem Raum zu, dem Gemälde Tod und Leben . Sie referierte gerade über
die Zweiteilung des Bildraumes und die prägnante Farbsymbolik im Bild: „Dem Tod
sind die kantigen Formen und die düsteren Farben zugeordnet, während die
Lebenden gemeinsam ein harmonisches Ganzes bilden. Ihnen sind die fröhlichen,
klaren Farben, die runden, weiblichen Formen beigeordnet. Keiner von ihnen ist
bereit, dem Tod ins Auge zu sehen. Sie verschließen die Augen und scheinen
seine Gegenwart nicht wahrzunehmen. Ihr phallusförmiger Kokon scheint es ihm
unmöglich zu machen, in ihre Gemeinschaft einzudringen. Doch hat nicht die
Unglückselige ganz am äußersten Rand der Gruppe just die Augen geöffnet und
wird dem Tod im nächsten Augenblick Zutritt gewähren?“
Erst jetzt bemerkte Eliza, dass ihre
Gruppe Zuwachs bekommen hatte. Ein eleganter Mann im anthrazitfarbenen
Kaschmirpullover und dunkler Jeans hatte sich ihnen genähert und ihr offenbar
bei ihren Ausführungen gespannt gelauscht, schien nun aber unsicher, ob er sich
der Führung so einfach anschließen durfte. Mit einem gewissen Abstand folgte er
der Gruppe in den Saal zum Thema Psychoanalyse. Eliza sprach ein paar
einführende Worte zu Sigmund Freud und seiner auf das neue Jahrhundert
vordatierten Traumdeutung , von der ein Exemplar in einer Vitrine zu
sehen war. Immer wieder musste sie einen verstohlenen Blick zu dem Fremden
hinüberwerfen, der noch immer Abstand hielt. Sie fragte sich, ob er von seiner Position
aus verstehen konnte, was sie sagte und unwillkürlich musste sie noch einmal
genauer hinsehen. Der Mann war außergewöhnlich attraktiv. Er war groß und von
schlankem Wuchs. Seine Bewegungen waren elegant und flüssig, seine Haltung
gerade, irgendwie aristokratisch. Seine aschblonden, etwas längeren Haare
hingen ihm von der einen Seite immer wieder locker
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