Somnambul Eliza (German Edition)
ins Gesicht. Eliza
bedauerte, dass er so weit entfernt stand, denn sie war sich fast sicher, dass
zu diesem Mann auch ein besonders schönes Gesicht gehörte, doch sie konnte
leider keine Einzelheiten erkennen.
Plötzlich bemerkte Eliza, dass sie
ziemlich auffällig zu ihm hinüber gestarrt hatte und außerdem eine peinliche
Stille eingetreten war, obwohl es doch ihr Job war, diese Leute zu unterhalten.
Schnell wandte sie sich Kokoschkas Plakat Pietà zu und als sie aus den Blicken des Wasserstoffpärchens Unverständnis las,
lieferte sie auch noch eine kurze Erklärung zum Begriff der Pietà ,
die gewöhnlich die um den gerade vom Kreuz abgenommenen Christus trauernde
Maria zum Thema hat. Kokoschka hatte die Lithografie als Plakat für sein
eigenes expressionistisches Theaterstück Mörder, Hoffnung der Frauen geschaffen.
„Eine bleiche, fast totenköpfige Frau im
schwarzen Kleid hält einen muskulösen, puterroten Mann auf ihrem Arm. Sein
Körper wirkt wie gehäutet. Beide scheinen miteinander zu ringen und einen
erbitterten Kampf auszutragen, den Kampf der Geschlechter“, erläuterte Eliza
den Bildinhalt.
Es kostete sie große Konzentration, ihre
Gedanken beisammen zu halten und nicht ins Stottern zu geraten. Mit einem
kurzen Blick stellte sie beruhigt fest, dass er noch immer da war und offenbar
auf ihre weiteren Ausführungen wartete. Sie nahm all ihren Mut zusammen und
lächelte aufmunternd zu ihm hinüber. Als es nicht danach aussah, als habe er
ihre Aufforderung verstanden und unverwandt ein paar Meter von der Gruppe
entfernt stehen blieb, wandte sich Eliza dem nächsten Kunstwerk zu. Es handelte
sich um Egon Schieles Selbstseher II. Tod und Mann , das Werk, das im
Zentrum ihrer Promotionsschrift stand, an der sie gerade arbeitete. Es fiel ihr
immer besonders schwer, vor Besuchergruppen über dieses Meisterwerk zu
referieren, denn zum einen sollte eine Ausstellungsführung nicht zur
Antrittsvorlesung werden, zum anderen fürchtete sie, dem Bild in der Kürze der
Zeit nicht annähernd gerecht zu werden und drittens stand sie in dieser
Angelegenheit einfach nicht genügend über den Dingen und fühlte sich durch
unqualifizierte Kommentare zu diesem Werk immer persönlich angegriffen.
Eliza lies ihren Blick noch einmal
prüfend über die Gruppe schweifen. Die beiden Jungen standen belustigt vor
einer Jünglingsfigur George Minnes und amüsierten
sich köstlich über deren winzigen Penis. Die Blondine kätschelte auf ihrem Kaugummi herum, scheinbar ging ihrem Kopf gerade der Sauerstoff aus.
Das pensionierte Lehrerpaar nutzte die kurze Pause und blätterte bereits wieder
wie wild in seinen Führern. Offenbar betrachteten sie jedes von Eliza
vorgestellte Werk lieber in der winzigen Reproduktion als im Original direkt
vor ihrer Nase. Der Fremde hielt immer noch seinen Sicherheitsabstand ein und
Eliza konnte sich kaum vorstellen, dass er sie hören konnte. Zumindest redete
sie sich das ein, denn aus unerklärlichen Gründen machte sie der Gedanke daran
ziemlich nervös. Eliza entschied sich für eine knappe Darstellung des
Schiele-Bildes, das in ihren Augen eines der zentralsten seines Oeuvres war:
„Es handelt sich hier um ein Doppel-Selbstbildnis, das Schiele 1911 im Alter
von 21 Jahren angefertigt hat. Dabei ist der Begriff Selbstbildnis weniger
treffend als der Begriff Selbstdarstellung. Der Künstler bildet sich zusammen
mit einem bleichen Alter Ego ab, der viele Deutungsmöglichkeiten zulässt. Der Selbstseher ist ein besonders komplexes und vielschichtiges Werk, das sich der großen
Menschheitsfrage nach Leben und Tod annimmt.“
Eliza nahm die Unruhe in der Gruppe wahr
und sie forderte die alten Damen auf, ihre Gedanken zum Bild mitzuteilen.
Schließlich ergriff eine der beiden das
Wort: „Ich finde es absolut entsetzlich. Das ist ein hässliches und furchtbar
unheimliches Bild. Die beiden haben gar keine Augen, wie schrecklich – und es
ist schlecht gemalt.“
Eliza wechselte die Farbe wie eine
Ampel, doch ehe sie etwas erwidern und Partei für dieses wunderbare Stück
Kunstgeschichte ergreifen konnte, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Im
scharfen, belehrenden Ton schnitt er seiner Vorrednerin das Wort ab: „Der Tod
hat immer etwas Bedrohliches an sich.“
Mit einem unbeschreiblichen Timbre in
der nun herb samtigen Stimme fügte er hinzu: „Doch will man in diesem fahlen
Wesen wirklich die Personifikation des Todes sehen, so hat sie in meinen Augen
auch etwas durchaus Tröstliches und
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