Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
angenommen.
Altenheim in Brandenburg. Sozialismus in Reinkultur.
Zur Wiedervereinigung ein Prokurist:
Das ist eine völlig unerwartete Wendung in der Geschichte – das ist das erste. – Und das zweite ist, daß doch wohl dieser Prozeß … Zuerst hat man gesagt: Das ist eine überstürzte Angelegenheit. Doch jetzt muß man sagen, daß die Eile angebracht war. Daß das nun dem Bundeskanzler Kohl in den Schoß gefallen ist, ist eine andere Sache. Und daß man das dem Volk gegenüber als eine leichte Übung dargestellt hat – das war verkehrt. Man hätte ruhig sagen können, was auf uns zukommt. Da hat man das Volk falsch eingeschätzt.
Und eine Gärtnerin:
Ich bin eigentlich dafür.
Klaus Kinkel möchte gern auf einer ruhigen Nordseeinsel leben. Mit Lyrik kann er nichts anfangen (FAZ-Fragebogen).
September 1991
Nartum So 1. September 1991
Weltfriedenstag
Mitternacht
Heute, am Sonntag, hatten wir wunderbares Wetter. Ich hatte Ekel vor der Arbeit, habe auch Schwierigkeiten mit der Nahrungsumstellung (kein Körnchen Zucker mehr).
Am Nachmittag brachte ich den Schluß von M/B auf Hochglanz. (Es wird wieder nicht«genügen».) Gegen 23 Uhr war ich fertig. Morgen geht das Ms. an den Verlag ab.
2007: Das Schicksal von Büchern. Niemand kennt M/B. Jetzt, nach«Alles umsonst», erwacht Interesse daran, aber es ist nicht mehr lieferbar.
Die unangenehmste Kritik kam von den Vertriebenenverbänden: Hier wilderte einer im fremden Revier! Es stimme vorn und hinten nicht, schrieben sie. Aber was nicht stimmte, schrieben sie nicht. Es ist überhaupt auffällig, daß alle meine Bücher von diesen Leuten nicht beachtet werden oder abgetan («Echolot»!). Auch die Steinbach. Wenn ich wirklich ein Revanchist wäre, dann hätte sie mich doch vor ihren Wagen spannen können. Aber da kam nichts. Die«Fuga furiosa»- damit war doch das sogenannte«Flüchtlingstabu»längst gebrochen.
Nartum Mo 2. September 1991, herrliche Sonne
Nationalfeiertag der Demokratischen Republik Vietnam
Wir haben meinen«Urlaub»noch um ein paar Tage verschoben. Simone und ich legen letzte Hand an das Ms. – Morgen Paeschke.
1. Ms. übergeben
2. Allgemein reden.«Sirius», daß er so lange nicht vorrätig war
3.«Echolot»alles ok, Ablieferung 1. Mai. Rechte
4. Das nächste Buch, der nächste Vorschuß!«Alkor»1993 Herbst
Vorschüsse bis einschließlich 1993 gesichert
5. Dann wieder ein«erzählerisches Buch», wie sie das nennen, etwa«Dorf»oder«Trompeten», ca. 1994
Bisher immer Dreijahresrhythmus.
6.«Echolot II»1995 = über das Kriegsende, 50 Jahre danach.
Soll man es sympathisch nennen, daß Gorbatschow bei seiner Rückkehr, vor dem Flugzeug stehend, so verdattert war? Nein, als Politiker, der überzeugt ist von der guten Sache, die er vertritt, hätte er diese Chance nutzen müssen. Große Rede an das Volk oder so was. Aber was wissen wir schon.
Das Lenin-Museum in Moskau wird geräumt. Wann sie wohl das Mausoleum sprengen? Der Leichnam wird einmal pro Woche«behandelt». Der Tempel ist ganz interessant, als Denkmal nicht wegzudenken vom Roten Platz. Möchte mal einen längeren Film über die Geschichte des Roten Platzes drehen. Die obszönen kriegerischen Aufmärsche, die Sportler in ihren Posen, vor Strammheit sich fast in die Hosen scheißend, die Großen, wie sie von der Kremlmauer dem Volk zuwinkten. Man sieht nur Köpfe mit Hut oder Mütze. Mancher trägt auch eine Kosakensache aus grauem Persianer. Die Hand heben sie nur eben. Jede Anstrengung vermeiden. Das Mädchen, das man Stalin zum Kuß hinaufreichte, kam später im Gulag um, oder ihre Mutter. (So wie auf dem bekannten Führerbild, 1936, das sich träumerisch an ihn lehnende Mädchen. Stellte sich heraus, daß sie Jüdin war?) – Und ausgerechnet auf diesem Platz ist der Rust mit seiner Sportmaschine gelandet. Das müßte den Schluß des Films ausmachen. Der gab den Anstoß zum Zusammenbruch des Kolosses. Man hat ihn dafür als dummen Jungen beschimpft.
M/B: Heute früh verpaßte ich dem«Marienburg»-Kapitel den letzten Schliff. Habe die Bremer Sozis bedacht. Sie werden es nicht merken, weil sie meine Bücher nicht lesen.
TV: Die vier jungen Leute wurden vorgeführt, die den jungen Gueffroy an der Mauer erschossen haben. Die jungen Gesichter, die Fotografen, das Foto des Opfers – tragisch. Dazu Honecker in Moskau. Schrecklich und nicht zu lösen. Honecker geht auf und ab mit seiner Frau. Verlegen, ratlos. Sie
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