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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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schlichter konstruiert, bis auf die ganz Cleveren, und die überholen noch die Wessis. Das sind 10-15%. (Journalistin)
     
    Zwiegespalten. Weil ich aus Leipzig komme, vor 18 Jahren, seitdem hab’ ich nicht wieder hingedurft. Jetzt bin ich auch noch nicht dort gewesen, weil man nicht gern an schlechte Dinge erinnert wird. – Wiedervereinigung? Nicht in dieser Form. Langsame Annäherung, weil ich meine, daß man das, was 40 Jahre getrennt war, nicht mit einem Klatsch wieder zusammenfügen kann. (Journalistin)
     
    Euphorisch! Alles, was mehr Freiheit bringt und Demokratie, kann nur positiv gewertet werden. Die Wiedervereinigung hat die Kriegsgefahr gemindert in Europa und gibt den Deutschen die Chance, in diesem Jahrhundert in die Weltgeschichte einzutreten. (Journalist)
    Bittel rief an, M/B wird 220 Seiten haben. Er lobte mich netterweise für die«Blick»-Stelle. Er habe zunächst seine Schwierigkeiten damit gehabt. Wie Joe auf der Nehrung sitzt und sich vorstellt, daß hier sein Vater gesessen hat, damals.
     
    Die Israelis haben 10 Mia. gefordert. Leserbrief: Wir sollten ihnen 20 Mia. geben.
     
    2007: Hildegard riet, das Buch«Eine Episode»zu nennen, was zwar sachlich richtig, uns dann aber leider Tausende von Lesern kostete, Leser wollen Romane, keine Kurzgeschichten, keine Episoden. – Bis heute hat sich das Buch nicht durchgesetzt. Niemand kennt es.

Nartum Do 12. September 1991
     
    Gestern früh um ½ 2 Uhr starb Mutter Janssen. Hildegard und der Neffe waren bei ihr. Gestern und heute sind sie mit den notwendigen Formalitäten und Ordnungsdingen beschäftigt. Seinen letzten Atemzug tun.
    Hildegard war jeden Tag Stunden da, hat ihr vorgesungen, sie gefüttert usw. Schließen wir das unerfreuliche Kapitel. Unwillkürlich denke ich: Diese Seele ist nun bei Gott. Also braucht sie mich nicht mehr.
     
    Beim Raddatz-Empfang im German-English-Club war es kümmerlich. Ich war der einzige Autor! Theo Sommer hielt taktlose Rede und Raddatz dieselbe wie am 7. 9. Er trug orangeroten Schlips. Etwas mit Greiner, Hage, J. Kersten gesprochen.
     
    Noch zur Wiedervereinigung:
    Ich hab’ das im Kopp noch nicht bewältigt, ich hab’s noch nicht kapiert. Banale Dinge: daß Rostock in der Bundesliga ist. – Nationale Gefühle habe ich nicht entwickelt. (Inhaber einer Werbeagentur im Westen. Ist in Görlitz aufgewachsen, jenseits der Oder)
    Ich kaufte ein Album für Autographen und schickte es heute mit drei Schilderungen von Schiffskatastrophen aus dem Archiv zusammen an Ernst Jünger. Mal sehen, vielleicht habe ich Glück und kann ihn zu einem Eintrag verlocken. (Er sammelt Berichte von Schiffskatastrophen.)
    Wieder zehn Nachfragen auf unsere Seminaranzeige. Morgen Lesung in Neubrandenburg. Christian will mich fahren. Vielleicht ergibt sich unterwegs ein Gespräch über die Literaturseminare, die er«auf wirtschaftliche Füße»stellen will.

Neubrandenburg Fr 13. September 1991
     
    Fahrt durch das schöne Mecklenburg, eine herrliche Landschaft.
    Neustrelitz sieht schlimm aus, Park aber sehr gepflegt. Ein Besoffener belästigte uns in dem Gartenlokal (Orangerie), wo ich ein ungenießbares Schnitzel zu essen versuchte, der Neffe ein sogenanntes Hühnerfrikassee. Ich sagte zu dem Kellner:«Würden Sie uns von dem Mann befreien?»Und der Kellner machte husch!, und da hatten wir unsere Ruhe. – 1945 sah ich im Park weiße Hirsche. Die Kommunisten haben das schöne Schloß Ulbricht zu Gefallen abgebrochen.
    Auf dem Herweg sahen wir viele Russen. Eine Straße endete plötzlich im Nichts, Schießplatz der Russen, wir mußten umdrehen und einen Umweg über Feldwege machen. Auf der Landkarte ein weißer Fleck, wie im tiefsten Afrika.
     
    Lesung in Neubrandenburg. Der kleine Saal war überfüllt, die Hälfte der Leute hat man fortschicken müssen. Also ein Zeichen, daß es sehr wohl Publikum für mich hier drüben gibt. (Ein Teil der Zuhörer stammte allerdings aus dem Westen.) – Ein Herr sagte: Meine Sprache wär’ ja so flapsig, er könne sich vorstellen, daß meine Bücher bei der Jugend gut ankommen. Ob ich nicht die Geschichte der letzten 100 Jahre für die Jugend in Form von Romanen beschreiben wollte. Dies sagte er, nachdem ich das Picknick aus«Aus großer Zeit», die Rückkehr nach Hamburg aus«Herzlich willkommen»und Joes Ausflug in den Osten gelesen hatte. Fünf meiner Bücher lagen auf dem Verkaufstisch.
    Auf meinen M/B-Schluß reagierten die Zuhörer nicht merklich. Es ist immer so witzig, daß hinterher kein

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