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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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verstümmelten Leichen gezeigt.
    Ruge meinte: Dies sei noch«ein Kinderspiel, gemessen an dem, was sich in der SU ereignen wird, wenn dort Grenzen verschoben werden, wie Jelzin in russischer Raffgier angedroht hat».
     
    Hildegard bezeichnete ihr Zimmer oben als ein Luftzelt. Das Haus sei eine große Umarmung. Das meinte auch ein sehr hell gekleidetes greises Ehepaar aus Passau, das uns kurz heimsuchte. Sie gaben mir zwei WV-Statements:
    Mich hat das Ganze sehr gerührt, und ich finde nicht gut, wie die Westmenschen jetzt über das Land herfallen.
     
    Ich war tief beeindruckt, weil wir die Öffnung so hautnah erlebt haben. Wir wollten eigentlich nur’n bißchen gucken, und da hieß es: Die Grenze wird geöffnet, und die kamen mit’m Fahrrad und’n paar Blumen. Da kamen die Tränen. Und heute noch, jedesmal, wenn ich rüberfahre – das ist doch was Besonderes. Es war eine starke Situation.
    Mir kam die Idee, einen Campingbus zu mieten und durch die neuen Länder zu fahren und diese im Urzustand zu besichtigen.
     
    Hildegard hatte Magenvergiftung, mußte sich übergeben. Wir suchten vergeblich einen Campingwagen-Verleih in Achim, dabei passierte es.

Nartum Do 29. August 1991, Sonne!
     
    Gestern sah ich Hieronymus-Bosch-Bilder durch nach einem Motiv für das sogenannte Cover von M/B. Fand eine blaue Schüssel mit Hand, Dolch und Würfel.
     
    2007: Wurde vom Verlag abgelehnt.
     
    Von der Steuer kriegten wir einen Bescheid über eine«nachträgliche Vorauszahlung».
    1. Kulaken
    2. Partei
    3. Armee
    4. Krim-Tataren
    5. Wolga-Deutsche
    6. eigene Soldaten (Kriegsgefangene)
     
    «Westliche Expertenschätzungen gehen bis zu 35 Mio. Opfer.»Solschenizyn glaubt, 60 Mio.
    Das Wort von der«schweigenden Mehrheit».
     
    Wieso er denn den Mangel an Magnesium, unter dem ich offensichtlich leide, nicht vorher selbst bemerkt hat? fragte Hildegard den Arzt. – Nein, das könne man nicht. Schon der Einstich der Metallspritze hinterlasse Metallspuren.
    Lesung in Bargteheide.
    Sehr schlechter Tag, hatte wieder Zuckerschock, der den ganzen Tag anhielt, wohl, weil ich heute früh drei Scheiben mit Erdbeermarmelade gegessen habe. Dazu den ganzen Tag Hunger, obwohl ich dauernd was aß. – Hildegard meint, ich hätte eben Appetit.
    Gegen alle Mißlichkeiten machte ich in M/B weiter. Ich will das nun lossein.
    Hildegard bemüht sich um ein Wohnmobil, vielleicht können wir nächste Woche damit nach drüben fahren.
     
    Handwerker setzten den neuen Zaun.
     
    In der FAZ wird eine Tagung über Erlebnispädagogik angeboten. Was gut ist (war), kommt wieder.
     
    «Ganz Moskau spannt die Muskeln an», so ähnlich formuliert der«Spiegel».
    Im Radio sei man wohl ein bißchen zu erbötig gewesen, den Putschisten gegenüber.
     
    Ich frage einen Mann auf der Straße (in Bargteheide):«Mein Herr, kann man hier irgendwo gut essen?»-«Ja, da hinten rechts, ein Türke. Ich komm’ da auch gleich hin.»
     
    In der SU geht’s hoch her. Da ist ab heute, wenn ich das richtig kapiert habe, die Tätigkeit der KPdSU untersagt. Die Enthüllungen, die in den Archiven der SU schlummern, werden uns – wenn man sie vor der Vernichtung rettet – noch jahrelang beschäftigen. – In der DDR geht’s auch wacker zur Sache. Nun haben sie die Charité beim Wickel, der offenbar noch lebende Schwerverletzte zur Organentnahme herbeigekarrt wurden. Der Chef-Mensch hat angeblich keine Ahnung, gibt aber so ziemlich alles zu. Die Zeit der Schuldlosen ist ein zweites Mal angebrochen.
    Israel verlangt plötzlich nochmals 10 Mia. Mark Entschädigung, weil die DDR ja nichts gezahlt habe. Verständlich, aber sehr sympathisch ist das nicht.
     
    Nach der Lesung fischte ich Wiedervereinigungsplankton.
     
    Ein Chemiker:
    Ja, wir können ja nicht jahrelang mit Brandenburger Tor am Revers herumlaufen oder im Herzen und denn nicht dafür sein. Wir sind alle Deutsche, und wir werden zusammenfinden.
    Und eine Mathematikstudentin:
    Egal ist es mir nicht. Natürlich ist es richtig, es gibt ein Aber. Ich habe keine Beziehung nach drüben, weil ich aus Moers stamme. Keine Verwandten. Was ich schlimm finde: daß unheimlich viele Menschen, die jahrzehntelang andere bespitzelt haben, das nach wie vor tun. Die Menschen sind mir unheimlich. Ich denke, daß die völlig anders sind durch diese Geschichte. Es dauert wahrscheinlich viel länger, als andere wahrhaben wollten.
    Eine Lehrerin:
    Mir ist es unheimlich, weil ich Angst habe vor den Menschen, die ständig andere bespitzelt

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