Sonne über Wahi-Koura
kleidete sich an. Da sie gestern zu müde fürs Auspacken gewesen war, kleidete sie sich in das Kostüm, das sie bei ihrer Ankunft getragen hatte. Danach ging sie kurzerhand dem Kaffeeduft nach in der Hoffnung, auf diese Weise zur Küche zu gelangen.
In der Eingangshalle fand sie die Haustür sperrangelweit offen vor. Rufe ertönten von draußen. Louises Arbeiter begaben sich an ihr Tagwerk. Von plötzlicher Sehnsucht gepackt, entschied Helena, vor dem Frühstück einen kurzen Morgenspaziergang zu machen.
Eine frische, nach Gras duftende Brise strömte ihr entgegen, als sie ins Freie trat. Da die Männer keine Notiz von ihr nahmen, folgte sie ihnen zum Weinberg und verschwand zwischen zwei Reihen Reben. Das Weinlaub streifte ihre Hände und benetzte ihre Haut und ihr Kostüm mit Tau. Unter den gezackten sattgrünen Blättern, die hier und da bereits rote und gelbe Sprenkel aufwiesen, entdeckte sie hellgrüne Trauben, die bis zur Reife mindestens noch einen Monat, wenn nicht zwei brauchen würden. Müller-Thurgau, stellte Helena verwundert fest. Wie war es möglich, dass diese Neuzüchtung des gleichnamigen Schweizers schon an das andere Ende der Welt gelangt war?
Sie pflückte eine noch unreife Weinbeere ab und zerrieb sie zwischen den Fingern. Der säuerliche Duft des Saftes erinnerte sie an ihre Heimat, an die letzte Lese und die Zeit, in der sie glücklich war. Ach, Laurent, warum ist nur alles so gekommen?, dachte sie wehmütig. Dann schloss sie die Augen, lauschte dem Rascheln des Laubes und breitete die Arme aus, als wolle sie sich in die Lüfte erheben.
»He, was suchen Sie hier?«, bellte eine Männerstimme.
Helena schrie vor Schreck auf und wirbelte herum.
Ein schlanker blonder Mann ragte vor ihr auf. Aus blauen Augen musterte er sein Gegenüber streng. Nur ein Grübchen am Kinn milderte seine kantigen Gesichtszüge. Der Arbeitskleidung nach zu urteilen war er einer der Winzergehilfen. Andererseits verriet seine Haltung, dass er gewohnt war, Anweisungen zu erteilen.
»Ich wollte mir nur den Weinberg ansehen«, antwortete Helena, peinlich berührt.
»Wer hat das erlaubt?«, grollte der Fremde. »Verschwinden Sie von hier!«
Helena straffte sich, blieb aber freundlich. »Brauche ich als Schwiegertochter von Madame de Villiers denn eine besondere Erlaubnis, wenn ich mich hier aufhalten möchte?«
»Schwiegertochter?« Der Mann zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Dass Sie bereits hier sind, hat mir niemand gesagt.«
Das überraschte Helena nicht. Ich bin eben nur ein ungeliebter Gast, dachte sie, behielt es aber für sich. »Ich bin erst gestern Abend eingetroffen. Helena de Villiers.«
Sie streckte ihm resolut die Hand entgegen, doch der Fremde erwiderte die Geste nicht.
»Zane Newman, der Kellermeister von Madame de Villiers.«
Ein Engländer als Kellermeister, dachte Helena spöttisch. Das würde es im französischen Mutterland nicht geben. »Sehr erfreut.«
Newman rieb sich verlegen das Kinn. »Entschuldigen Sie, dass ich nicht wusste, wer Sie sind. Natürlich können Sie sich ohne Erlaubnis hier aufhalten ... sofern Sie meine Leute nicht von der Arbeit abhalten.«
Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass es ihm alles andere als leidtat, sie angefahren zu haben. Aber Helena wollte nicht vorschnell urteilen.
»Keine Sorge, ich weiß, wann ich im Weg stehe«, begann sie, versöhnlich lächelnd. »Wenn Sie der Kellermeister sind, kennen Sie sich doch bestens auf dem Gut aus.«
»Natürlich.«
»Hätten Sie Lust, mich ein wenig herumzuführen? Ich würde gern -«
»Bedaure«, fiel er ihr ins Wort. »Ich habe zu tun. Sie hätten sich doch auch allein umgesehen, wenn ich nicht aufgetaucht wäre.«
Was für ein ungehobelter Kerl! Helena ärgerte sich. Aber sie wollte noch nicht aufgeben. »Schon, aber es ist wesentlich interessanter, wenn ich jemanden an meiner Seite habe, der mir alles erklärt.«
»Das gedenkt Madame sicher noch zu tun, und ich will ihr nicht vorgreifen. Sie interessieren sich auch bestimmt nicht für unsere Arbeit. Da gibt es gewiss Kurzweiligeres.«
Newman deutete eine kleine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen, aber Helena hielt ihn zurück. »Hören Sie! Sind sie zu allen Besuchern so unfreundlich oder nur zu mir?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Ma'am.«
»Oh, das wissen Sie durchaus!« Helena stemmte die Hände in die Seiten. »Wären Sie bei mir angestellt, würde ich Sie zur Ordnung rufen.«
»Dann sollte ich wohl froh sein, dass ich in den Diensten
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